Martin Dauel und Wendelin Weißbach früher

Seit mehr als 20 Jahren holt Martin Dauel großartige Bands auf die Bühne des Kassablanca. Im Interview erzählt er, wie sich der kleine Jenaer Club über die Jahrzehnte einen Ruf in der internationalen Musikszene erarbeiten konnte. Martin spricht aber auch offen über Sexismus, über das Älterwerden in einem Haus der Jugendkulturen, gelebten Dilettantismus und die Notwendigkeit, nicht von jedem gemocht zu werden.

Martin Dauel | ©Anne-Kathrin Schleif

Seit wann arbeitest du im Kassa und wie kam das?

Im November 1997 habe ich das erste Mal im Kassa gearbeitet. Damals gab es noch einen festen Koch und einen Ersatzkoch, und die konnten beide nicht. Der Ersatzkoch, ein Zivildienstleistender, war ein sehr guter Freund von mir und fragte mich, ob ich einspringen kann. Ich hab dann immer mal wieder ausgeholfen. Irgendwann wurde eine Zivildienststelle frei. Ich war zwar nicht auf der Suche danach. Ich hatte vielmehr versucht, drum herum zu kommen, war dreimal bei der Musterung, jedes Mal ein Tauglichkeitsgrad weniger. Aber das Kassa hat mich interessiert. Also machte ich erst ein Praktikum, dann Zivildienst, und inzwischen arbeite ich nun seit 22 Jahren hier.

Weißt du noch, was du gekocht hast?

Slowakischen Kesselgulasch. Fiel mir ein, weil ich in der Slowakei im Urlaub war. Aber am Ende war das wie bei vielem, was ich im Kassa gemacht habe – beim Machen habe ich festgestellt, dass ich das gar nicht kann. Also, das Essen war okay. Aber an dem Wochenende waren Les Tambour du Bronx zu Gast, mit ungefähr 25 zu verköstigenden Leuten, und gleich am Tag darauf war ein Hip Hop Jam mit Fünf Sterne Deluxe. Ich habe um die 15 Kilo Fleisch gemacht und Kartoffeln und Paprika und was da alles dran kommt, das war unglaublich viel Zeug! Dazu extra noch einen Topf Vegetarisches. Der Plan war, dass das für beide Tage reicht. Als es fertig war, habe ich das Essen in den Backstagebereich hoch gebracht, und bin wieder in die Küche, wo noch Brote im Ofen waren, die ich mit Kräuterbutter bestreichen wollte. Als ich mit den Broten zurückkam, war der Gulaschtopf leer und die Franzosen saßen mit dem Löffel in der Hand da und warteten, was es noch gibt. Die haben auch alle doppelt so viel gewogen wie ich. Das Konzert war jedenfalls großartig. Tambour du Bronx war so eine Art Jugendsozialprojekt, mit jungen Erwachsenen aus Banlieues, viele auch mit krimineller Vergangenheit. Die haben mit Axtstielen auf Ölfässern getrommelt, aber richtig gut, richtig erfolgreich. Das Kassa ist aus allen Nähten geplatzt.

Das Kassa ist für sein Catering berühmt, das habe ich schon öfter gehört.

Ich habe in der Zeit, in der ich hier gekocht habe, auch viel verkehrt gemacht. Habe zum Beispiel super gern Forelle gemacht, wenn eine Band Fisch wollte, aber immer wieder vergessen, dass es viele Leute gibt, die Forelle einfach nicht gerne essen, weil das mit den Gräten kompliziert ist. Naja. Ich hab mir Mühe gegeben, aber mit dem, was heute hier mitunter aufgefahren wird, ist das nicht zu vergleichen. Bei kleineren Anlässen koche ich aber ab und zu noch gerne.

Also durch dein Engagement als Koch bist du also zum Kassa gekommen. Bist du zuvor auch als Gast hier gewesen?

Hier am Gleis 1 nicht. Vorher, im Villengang und im Paradiescafé, ja. Ich hing aber viel im besetzten Haus ab, gleich hier nebenan. Und in der JG Stadtmitte, da bin ich eigentlich mehr oder weniger groß geworden. Wie so einige hier aus dem Kassa. Die linke Szene war damals stark vernetzt durch die unterschiedlichen WGs. Man hat sich einfach viel getroffen, Sachen gemacht.

Eine Wegbegleiterin von dir in den 90er-Jahren hier im Kassa sagte mal zu mir, der Martin ist eigentlich der wirkliche Punk. Was meint sie damit?

Im Herzen trage ich das schon. Und musikalisch ist das natürlich eine ziemlich wichtige Geschichte für mich, die wichtigste vielleicht, auch heute noch. Dazu gekommen bin ich über Schulfreunde, die in eine Junge Gemeinde gegangen sind, damals noch gar nicht die JG Stadtmitte, sondern eine ganz kleine Junge Gemeinde in der Bebelstraße. Dort haben mir Schulfreunde Kassetten überspielt, die sie in der Bibliothek ausgeliehen hatten.

Was hast du während deines Zivildienstes im Kassa gemacht?

Ich war im Büro von Thomas Sperling, praktisch als Nachfolger von Danny Engel. Hab gemeinsam Zivi gemacht mit Ollinger und Sören. Wir machten das Programmheft und die Flyer, ich hab da ganz viel von Thomas gelernt, der mit der Software halbwegs vertraut war und mir das beibrachte. Ich hab vorher mal versucht, eine Lehre zu machen als Informatikassistent. Dadurch hatte ich ein paar Grundlagen im Umgang mit Computern. Wir arbeiteten damals mit FreeHand 7 und Photoshop – weiß gar nicht, ob das schon die 5 war. Wir hatten einen Rollcontainer, heute werden darin die Farbfolien von der Abteilung Licht aufbewahrt, indem waren die Infos zu den Events des jeweils aktuellen und nächsten Monats drin – Bandfotos, Infotexte und so weiter. Alles analog, denn digitalen Datenverkehr gab es noch nicht in dem Sinne. Und weil ich mit Punkmusik groß geworden bin, hab ich schon während meines Zivis die ersten Konzerte gemacht.

Adobe-Vorfahr FreeHand7 – Die Software der Zukunft der Vergangenheit

Fragt ihr eigentlich die Bands an oder fragen die Bands euch an?

Heute ist es eher so, dass die Bands anfragen bzw. ihre Agenturen. Zumindest was die größeren Konzerte angeht, ist das alles viel professioneller als früher. Als ich anfing, hat das Faxgerät vielleicht zwei- bis dreimal mal die Woche Faxe von Agenturen ausgespuckt, wo verschiedene Bands draufstanden und deren Tourzeitraum, und dann konntest du da anrufen oder ein Fax zurückschicken und die anfragen. Zum Teil hab ich es sogar noch so gemacht, dass ich in meine Plattenkiste geguckt habe und da stand dann im Idealfall auf den Platten eine Adresse drauf, an die ich eine Postkarte schicken konnte. Dann ging das ne zeitlang hin und her.

Was gehört alles zum Konzert machen?

Zum einen die Technische Vorplanung – was brauchst du auf der Bühne? Dann die Kalkulation – mit wieviel Leuten rechnest du? Und die Abrechnung. Für mich geht es beim Booking aber auch darum, mehr als nur ein Konzert zu machen. Ich will auch am Gesellschaftsbild etwas ändern, und für Gruppen, die unterrepräsentiert sind, Sachen an den Start bringen. Persönlicher Geschmack spielt bei der Auswahl natürlich eine Rolle. Aber das wird weniger, weil man mit Mitte 30 oder 40 nicht mehr den Draht zu den ganz jungen Leuten in der Zielgruppe hat. Wichtiger ist zu lernen, Nein zu sagen, Sachen nicht zu machen. Ich hab ja immer auch die Idee, dass ich diese Band supporten und bekannter machen will, wenn die geil sind.

Gerade in dem Genre, mit dem ich mich beschäftigt habe – Gitarrenmusik, Weltmusik, Ska, Reggae – war es jahrelang so, dass man etwas Internationales auf die Bühne stellen musste, damit überhaupt Leute kommen. Das ist schon eine ganz Weile nicht mehr so. Heute haben wir mit deutschen Bands einen ganz anderen Erfolg, gästemengenmäßig, als mit ausländischen Bands. In einer Stadt wie Jena ist es total schwierig, Bands zu buchen, die toll sind, aber total unbekannt. Das funktioniert mit so festen Strukturen wie dem Punkrockkaffee, wo es aber auch keinen Eintritt kostet. Aber wenn man es finanziell nicht halbwegs ausgeglichen hinbekommt, dann kann man es halt nicht machen.

Dann gibt es Bands, die hast du schon länger auf dem Schirm, und dann stellst du fest, dass du in den letzten Monaten massiv viele Leute mit Shirts von dieser Band in der Stadt gesehen hast, grad in einer Studentenstadt, und dann denkst du: Okay, jetzt kann ich das mal versuchen.

Martin Dauel (links) beim Weiten des Horizonts Anfang des Jahrtausends mit Wendelin Weißbach (Metaboman).
©Kassablanca Jena

Also den Publikumsgeschmack einzuschätzen musstest du erstmal lernen?

Mein Problem war glaube ich immer, dass ich musikalisch bissl in der Vergangenheit fest hing. Bands, mit denen du groß geworden bist, die feierst du bis zum geht nicht mehr. Ist halt blöd, wenn das außer dir kaum jemanden interessiert.

Umgekehrt habe ich aber auch Sachen gebucht, nur weil ich dachte, die ziehen viele Leute, aber selbst mochte ich die gar nicht. Und dann war das Konzert ganz toll. Chumbawamba zum Beispiel. Am Ende kamen da nur 180 Leute, aber das Konzert war Bombe, wahnsinnig tolle Show, unglaublich sympathische Leute. Da denke ich total gern zurück.

Aber ich habe auch wirklich erstaunlich viele Konzerte in den Sand gesetzt, wo ich fest der Meinung war: Das läuft, das wird voll. Was ich am Anfang noch gemacht habe, wenn es mal nicht so gut lief, wenn weniger Leute kamen als erwartet: Noch am Abend mit den Bands über die Höhe der Gage zu reden. Das würde ich heute nicht mehr machen, finde ich hochgradig unanständig. Aber das habe ich damals einfach nicht besser gewusst.

Stelle ich mir als eher unangenehme Gespräche vor.

Schäme ich mich auch dafür. Mit großen Bands, die keine finanziellen Probleme haben, macht man das ja auch nicht. Da kommt man gar nicht in die Situation.

Wenn wir schon bei unangenehmen Gesprächen sind – lokalen Bands absagen zu müssen, ist wahrscheinlich nicht so schön.

Nein, bei Jenaer Bands mache ich mich nicht gerade beliebt, wenn ich sage: Nee, das reicht nicht, bei uns spielt ihr nicht. Oder wenn ich sage, bevor ich eine Band zum zweiten Mal spielen lasse, sollten zwei Jahre vergangen sein. Musikalisch haben wir die Messlatte über die Jahrzehnte ziemlich hoch gelegt, und da tut man Bands nicht unbedingt einen Gefallen, sie hier spielen zu lassen, wenn sie einfach noch nicht soweit sind. Dann ist man halt der Idiot, der immer wieder Nein sagt. Aber erstens halte ich es für eine unserer Aufgaben, so oft es geht neuen Scheiß anzubringen. Und dann ist es auch so meine Erfahrung, dass es für Bands nicht gut ist, in der gleichen Region zu oft zu spielen.

Wie triffst du deine Auswahl?

Man sitzt halt viel vor dem Rechner, hört sich Musik an, guckt sich die Videos und die Klickzahlen bei Youtube und Spotify an. Guckt, wer mit wem verbandelt ist. Wenn du eine Band magst, dann magst du vielleicht auch die Musik, die die mögen. Ich gehe natürlich auch viel auf Konzerte, da siehst du dann auch wieder viele Band T-Shirts oder stehst mit irgendwem am Tresen und quatschst über Musik. Auch das Punkrockkaffee ist ja fast eine Art Stammtisch, wo übelst viel über Musik gequatscht wird. Der Günni, der seit Jahren die Bar macht, wenn Punkrockkaffee ist, kommt immer unglaublich vorbereitet an. Er hat immer einen Beutel mit CDs dabei, und das Cover von der CD, die er gerade spielt, stellt er immer auf den Tresen neben den Verstärker, damit jeder gucken kann, was gerade läuft, während er sein Bier bestellt, und drüber reden kann. Dass man sich Ideen von anderen Menschen holen kann, ist durch die Pandemie natürlich viel schwerer geworden.

Momente, für die ein Booker lebt. ©Kassablanca Jena

Wie oft passiert es dir heute noch, dass du bei einem Booking völlig daneben greifst?

Ich glaube, in den letzten zwei Jahren ist mir das nur selten passiert. Aber in meinen mehr als 20 Jahren schon oft. Das geht auch gar nicht anders. Komplett risikofrei zu buchen geht vielleicht, ist aber unspannend. Es ist auch nicht Aufgabe eines soziokulturellen Zentrums, einfach nur Sachen zu machen, die funktionieren. Ich weiß, dass wir nicht überall beliebt sind. Aber dass man nicht überall beliebt sein will, ist ja mitunter auch ein Standpunkt. Ich empfinde es als einen Vorteil, dass wir nur kommunal gefördert werden, und nicht abhängig sind von Landesmitteln, weil die Leute, die über uns entscheiden, uns kennen, wissen, wer wir sind und was wir machen.

Das Booking ist ja ein ziemlich wichtiges Element für den Erfolg des Hauses. Wie läuft das intern, gibt es da einen Abstimmungsprozess, welche Bands spielen? Es gibt ja auch im Kassa ganz unterschiedliche Geschmäcker.

Das ist ja das, wovon das Haus lebt – dass die Leute ganz unterschiedliche Geschmäcker und Ideen haben. Wir hatten lange Zeit relativ regelmäßige Treffen mit den Bookern. Aber dadurch, dass man hier viel aufeinander sitzt und miteinander zu tun hat, spricht man sowieso miteinander, oder ruft mal kurz durch: Ey, ich hab hier die Möglichkeit dieses und jenes zu machen, was sagst’n du dazu? Und dann gibt es auch Sachen, die macht man einfach, weil man sich relativ sicher ist. Es gibt so ein paar wenige Geschichten, wo man weiß, das funktioniert, und die anderen sind dabei, und tragen das mit, da muss man nicht mehr groß drüber reden. Ich würde ja auch einen Teufel tun, Thomas zu sagen, wie er eine Technoparty machen soll, weil er das natürlich viel besser weiß als ich.

Gerade beim Thema Live-Musik spielt es auch eine große Rolle, welche Kontakte man in die jeweilige Szene und zu den Agenturen hat. Es gibt genug Bands, wo ich mir nicht mehr aussuche, ob, wann und zu welchen Bedingungen ich das machen möchte, sondern wo ich von der Agentur ein vertrauenswürdiges Angebot kriege. Da geht es dann nur noch um die Machbarkeit, und ansonsten ist man einfach mehr oder weniger dankbar, dass man das Angebot gekriegt hat. Andererseits haben wir uns als Kassa das ja auch über Jahre erstritten.

Was genau erstritten?

Dass Bands tatsächlich zu uns wollen. Wir hatten einige Bands hier, die müssen nicht im Kassablanca spielen, die müssen auch nicht in einem Laden spielen, der doppelt oder dreimal so groß ist. Die haben einfach Bock drauf.

Und was ist das, das die am Kassa so schätzen?

Ich glaube, der Umgang miteinander, auch tagsüber, dass wir ne gute Mischung haben aus Überzeugung zur Musik und Spaß dran, gepaart mit einem professionellen Arbeiten. Wir sind platzmäßig begrenzt. Aber das Ambiente ist halt schön, die Stimmung ist gut, das Publikum ist toll.

Was ist denn wichtig, damit Bands sich wohlfühlen? Gehst du mit den spazieren oder was?

Wenn man Zeit hat. Ich war auch schon mit Bands beim Fußball. Oder mit einem Tourmanager oder einem Booker, wenn alles läuft und die Abteilung Technik beschäftigt ist und es sind zwei Stunden Leerlauf, dann sackst du den ein und gehst in die Südkurve. Essen ist ganz wichtig. Als ich angefangen habe, Booking zu machen, gab es eine Band, ich glaube Muff Potter, in deren Catering-Rider stand: an geraden Tagen Nudeln und an ungeraden Tagen Reis. Weil es halt überall nur Nudeln mit Rot oder Reis mit Scheiß gab. Und damit es das nicht zweimal hintereinander gab, stand das so bei denen auf dem Zettel. Wenn du mal anrufst und fragst: Worauf habt ihr denn wirklich mal Bock, wollen wir mal was anderes machen? Dann wird das sofort wahrgenommen.

Also einfach ein guter Gastgeber sein?

Ja, am Ende sind es Gäste, und für mich als Booker ist es eine sehr sehr einfache Geschichte: Alles, was du einer Band Gutes tust, macht das Konzert besser. Und alles, was das Konzert besser macht, finden die Leute geiler, und dann kommt das Publikum auch wieder.

Kümmert ihr euch auch um die Unterkunft für die Bands?

Zum einen haben wir ein Hotel, mit dem wir fest zusammen arbeiten. Mittlerweile gibt es auch immer mehr Nightliner-Produktionen, wo die Bands nachts im Tourbus schlafen. Und unbedingt gehört auch unser Schlafwagen zum Ambiente des Ladens, der, seit er ausgebaut und saniert wurde, noch mal eine ganz andere Qualität hat. Gerade nicht-europäische Bands feiern das übelst, in einem Schlafwagen russischen Fabrikats zu schlafen. Du fällst direkt von der Bühne ins Bett, musst nicht nochmal fünf Kilometer mit dem Auto oder dem Taxi fahren, kannst doch mal noch ein Bier mehr trinken. Das geht zwar nur, wenn die Band Bock drauf hat. Aber ganz viele Sachen könnten wir nicht machen, wenn es den Schlafwagen nicht gäbe. Wenn auf der Turmbühne zwei oder drei Bands von außerhalb spielen sollen und du musst da ein Hotel bezahlen, ist schnell soviel Geld weg, und dann kannst du es halt nicht machen.

Der Hierwirdimmerganzfestgeschlafenwagen. ©Kassablanca Jena

Nach deinem 13-monatigen Zivildienst hast du für ein halbes Jahr in einer Grafikagentur gearbeitet und 1999 bist zurück ins Kassa. In welcher Funktion bist du dann hier eingestellt worden?

Weiß nicht, so richtig haben wir das nie benannt. Im Großen und Ganzen Konzerte und Öffentlichkeitsarbeit, Netzwerkarbeit.

Klingt so, dass es keine sehr feste Organisationsstruktur gibt im Kassa, sondern alles eher ein fließender Prozess ist.

Auf jeden Fall. Das Programm hängt schon sehr stark davon ab, was den einzelnen Leuten so gefällt, die hier aktiv sind, welche Ideen sie selbst einbringen. Klar gibt es ein gemeinsames Ziel. Weiß gar nicht, ob man das definieren kann. Aber schon mit dem Schwerpunkt auf Subkultur. Aber man braucht immer den Input von Außen, es passiert ja auch so viel. Als ich hier angefangen hab, gab es für mich eigentlich nur Punkrock und Hardcore und Geschrammel und Geschrei. Ich hab mich erst durch das Kassa langsam weiter geöffnet.

Seit 1999 bist du hier fest eingestellt. Wie läuft das, planst du längerfristig oder verlängert sich dein Vertrag immer von Jahr zu Jahr?

Jetzt mache ich mir eigentlich das erste Mal Gedanken, was später mal ist. Lange habe ich das gar nicht gemacht. Was das angeht, bin ich wahrscheinlich schon Punk. Ich hab das immer gern gemacht, sehr gern. Aber heute denke ich manchmal, wie naiv ich eigentlich war, mich in dieses Geschäft reinzuhängen, ohne von Tuten und Blasen eine Ahnung zu haben. Das einfach mal zu machen. Es dauert halt eine zeitlang, bist du das große Ganze siehst. Ich habe 1999 hier ein Konzert gemacht mit Soulfly, das war das neue Projekt des Sängers von Sepultura. Ich fand das total geil, dass wir das machen konnten. Da hab ich soviel gelernt an einem Tag wie nie. Die Kalkulation ist ja nur das eine, welche Gage die bekommen, und wie viel Eintritt wir nehmen müssen. Es war klar, dass die Hütte voll wird. Aber was es bedeutet, dann auf einmal mit solchen Stars umzugehen, und den Ansprüchen, die damit einhergehen, davon hatte ich keine Ahnung. Gerade für uns Zonis war das ja immer noch neu, dass es eine bestimmte Sorte Cola braucht, damit ein Konzert stattfinden kann oder so. Und vielleicht gibt es diese Cola in Ostdeutschland zu der Zeit gar nicht, und im Internet konnte man das auch nicht mal eben bestellen. Da hätte soviel schief gehen können.

Hast du ein paar Anekdoten zu besonders anspruchsvollen Bands?

Da gibt es sicher einige, aber das muss wirklich nicht in die Öffentlichkeit, da geht es ja auch um Personen. Wir haben das halt im Kassa dann relativ schnell gelernt, dass man bestimmte Ansprüche erfüllen muss, damit es schön ist. Und versuchen auf unsere Art und Weise mehr als nur die Ansprüche zu erfüllen. Mittlerweile sehe ich auch manche Dinge einfach anders. Wo ich früher die Hände über den Kopf zusammen geschlagen hätte beim Blick auf den Catering-Rider einer berühmten Band, habe ich heute auf dem Schirm, was das bedeutet, wenn man wochenlang auf Tour ist, vielleicht sogar in einem fremden Land oder Kontinent. Man kommt am Flughafen an, wird in einen Bus verfrachtet, fährt los, baut auf, macht einen Soundcheck, kriegt zu Essen, was auch immer man kriegt, macht ein Konzert, betrinkt sich, fällt ins Bett und dann geht es zum nächsten Venue. Und so geht das Tag für Tag für Tag. Wenn dann mal was schön ist, und man auch mal einen Rückzugsraum hat, dann macht das schon was aus.

So ins kalte Wasser geschmissen zu werden – wird das immer noch praktiziert im Kassa oder wär das heute einfach unprofessionell?

Gerade unsere Lehrlinge oder Bufdis bringen viele Ideen ein und es ist auch immer noch ein Vorteil des Kassa, dass man ins kalte Wasser geworfen wird. Aber es steht dir auch immer jemand zur Seite, der dich machen lässt, und eher unterstützt als beeinflusst. Da braucht man auch Vertrauen. Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Teil des Kassa, aufmerksam zu sein und ein offenes Ohr zu haben, wenn etwas Neues passiert, Sachen mitzunehmen.

Vor dem Konzert ist nach dem Konzert. ©Kassablanca Jena

Irgendwie dachte ich immer, du bist Sozialarbeiter. Weil du so ein ausgeglichener Typ bist.

Weiß ich gar nicht, ob das so stimmt. Ich mache halt die Sachen gerne, für die ich mich interessiere. Das war schon in der Schule so. In den Fächern, die mich nicht interessiert haben, war ich ziemlich schlecht. Aber vielleicht denkst du das mit dem Sozialarbeiter auch nur, weil du mich vor ein paar Jahren mal zu dem offenen Brief von Alina Sonnenfeld interviewt hast.

Stimmt, da ging es um Sexismus in der Jenaer Clubkultur, um Übergriffe auf Frauen auch im Kassa.

Meine Erfahrung als Konzertveranstalter ist: Je mehr Frauen sich wohlfühlen bei einer Veranstaltung, umso schöner ist die Veranstaltung. Die besten Konzerte sind die, wo Frauen mit im Pogo-Mob sind, dort, wo es heiß her geht in den ersten Reihen. Das ist leider viel seltener, als man denkt. Da reicht halt ein Vollidiot, der dafür sorgt, dass es immer weniger Frauen in so einem Mob gibt.

So ein Club spiegelt ja auch alltägliche Gesellschaft wieder. Wenn sich Frauen sicher und wohl fühlen, dann ist das was Gutes. Gerade in einem Club- und Konzertkontext – man geht da ja hin, um sich frei zu fühlen. Alf (Kassa-Mitgründer Alf-K. Heinecke) sagt immer, Freiheit und Unbeschwertheit sind ganz wichtige Punkte für das Kassa. Es ist so schwer, während einer Pandemie irgendetwas zu machen, weil eben diese Unbeschwertheit nicht mehr da ist, wenn man aufpassen muss, dass man Abstände einhält und eine Maske trägt, oder nicht tanzen darf. Das entspricht alles Null dem, was hier normalerweise gelebt wird.

Eure Reaktion auf die Kritik von Alina fand ich stark. Ihr habt das angenommen, sie eingeladen und ihre Verbesserungsvorschläge umgesetzt.

Die Frage stellt sich für mich gar nicht. Wenn jemand kommt und dieses Thema anspricht, dann nehme ich das ernst. Natürlich kann man sich auch bedroht fühlen von so einem offenen Brief wie von Alina. Weil wir das ja auch nicht wollen, was sie da beschreibt. Und was man nicht will, sieht man manchmal auch nicht. Das Thema war aber nicht neu, und wenn man sich mit Frauen unterhält, die schon länger bei uns ein- und ausgehen, wird das offensichtlich. Also muss man so einen Brief einfach als Anstupser sehen, oder als Arschtritt, dass es einfach wieder mal dran war, wieder mehr auf das Thema zu achten.

Trotzdem, du machst das jetzt seit 22 Jahren. Es passiert ja dann vielen, dass sie denken, niemand kann ihnen noch was erzählen. Wie schafft man es, nicht betriebsblind zu werden?

Man muss sich schon immer hinterfragen. Gerade beim Thema Sexismus hat sich auch bei mir die Wahrnehmung geändert in den letzten Jahren. Ich habe in den 90ern auch noch Sprüche gedrückt, wo ich heute denke: Scheiße, dafür schäme ich mich echt. Obwohl ich ja schon in einer linken Szene groß geworden bin, wo das schon immer thematisiert wurde. Aber dazu muss man dann einfach stehen. Es war eine andere Zeit, trotzdem war es dumm. Kann ich nicht mehr zurückdrehen. Aber ich kann probieren, dann eben heute geilen Scheiß zu machen, der tatsächlich auch gesellschaftlich etwas voranbringt. Was mir weiterhilft, ist die Arbeit, durch die ich viel Input habe, viele unterschiedliche Leute kennenlerne.

Für mich waren zum Beispiel die NSU-Monologe eine wichtige Erfahrung. Da kamen Angehörige von Opfern zu Wort, und es ging mal nicht um Uwe, Uwe und Beate. Man muss den Betroffenen zuhören. Was soll ich schon über Rassismus erzählen, der darunter noch nie zu leiden hatte? Und ganz ähnlich ist es beim Thema Sexismus. Wenn jemand darunter leidet, dann muss ich dem zuhören.

Für mich ist es deshalb auch wichtig dafür zu sorgen, dass wir mehr Frauen auf der Bühne haben. Das ist gar nicht so einfach wie gesagt, denn die Branche ist sehr männlich dominiert, und ich muss ja trotzdem auch wirtschaftlich arbeiten. Mich beschäftigt auch die Frage, wie wir wieder mehr fremdsprachige Bands ins Programm aufnehmen können, gerade auch solche, die die Minderheiten hier in Jena ansprechen und reflektieren. Was das angeht, muss ich ehrlich sagen, fehlen mir im Moment die richtigen Kontakte. Ich bin halt selbst auch beeinflusst dadurch, dass ich zu einer bestimmten medialen Zielgruppe gehöre als weißer Cis-Mann.

Aber das ist das Schöne an Jena, dass die Stadt so ein Schmelztiegel ist. Ich habe hier mal an einem Dienstagabend, da ist immer der schwul-lesbische Abend, die Queer-Lounge, eine Frau kennengelernt, mit der ich mich über feministischen Hip Hop in Deutschland unterhielt. Sie kam aus Spanien und meinte, dort gäbe es viel mehr davon, und dass sie mir mal ein paar Links schicken will. Acht Wochen lang ist nichts passiert, irgendwann kam eine Mail mit zweieinhalb Seiten voll Informationen zu Bands und Songs und Texten. Das hat mich völlig geflasht und ein paar Sachen habe ich dann tatsächlich auch gebucht. 

Hast du Angst, zu alt für diesen Job zu werden?

Klar, das gehört glaube ich mit dazu. Für mich ist es bis heute eine der geilsten Geschichten, wenn wir hier zusammen ein Konzert organisieren, und der Saal bebt. An einem großen Abend arbeiten hier bis zu 30 Leute, und man teilt diesen Moment mit der ganzen Crew. Diese sozialen Kontakte brechen natürlich durch die Pandemie massiv ein, und dann setzt so ein Alterungsprozess ein, hab ich das Gefühl. Es fehlt der Kontakt zu den vielen Leuten, die hier immer wieder neue Energie reinbringen.

Ich habe gerade angefangen eine Liste zu machen, so A bis Z, mit allen Bands, mit denen ich bisher gearbeitet habe. Das mache ich noch nicht lange, aber es sind jetzt so 250 und das ist nur ein kleiner Teil. Deswegen hatte ich auch ein bisschen Panik vor diesem Interview, denn wenn ich anfange zurück zu denken über diese lange Zeit, dann ist das immer so punktuell. Und mir fallen da so viele geile Moment ein und es ist so schwer, da etwas raus zu greifen. Was mir bei der Arbeit an der Liste auch aufgefallen ist: Es drängen sich vor allem die Bands in den Vordergrund, die ich nicht gemacht habe. Also Sachen, die mir fehlen, die ich super gern gemacht hätte. Das ist gar nicht so fürchterlich viel, das sind vielleicht so 20 oder so, wo wir vielleicht die Möglichkeit gehabt hätten, das zu machen, und dann haben wir es aber aus irgendwelchen Gründen nie gemacht.

Zum Beispiel?

Joe Strummer hatte ich zum Beispiel nie auf der Bühne. Hab ich mich nie getraut, und dann ist er gestorben. Fugazi. Napalm Death. Toots & The Maytals. Linton Kwesi Johnson. Na, vielleicht sind es auch mehr als 20.


Christian Gesellmann
Christian Gesellmann | ©Martin Gommel

Christian Gesellmann: Das Kassa feierte letztes Jahr seinen 30. Geburtstag! Ein Jahr lang werde ich mich als Stadtschreiber mit den Menschen treffen, die diesen einzigartigen Verein und Club geprägt haben, und ihre Erinnerungen aufschreiben – und natürlich mit Ihnen/dir teilen, hier auf diesem Blog, auf Facebook und Instagram.

Welche Geschichten und Erinnerungen verbinden Sie/verbindest du mit dem Kassablanca? Haben Sie/ hast du noch irgendwo alte Fotos von Ihnen/dir und Ihren/deinen Freunden im Kassa? Ich freue mich auf Post an: allesgute@kassablanca.de

  1. Sabine Bl.

    Oh, so gut geschrieben und ich fühlte mich gleich 30 Jahre zurückversetzt… (Im Januar/Februar 1992 war ich zum ersten Mal im Kassa im Villengang… ) Danach Para, Turm und Gleis 1 an unterschiedlichen Arbeitsstationen und dadurch zu Gast auf hunderten Konzerten unterschiedlichster Genres, womit ich wohl sonst niemals in Kontakt gekommen wäre. Dies hat mich tief geprägt! Da mein Pubertiersohn jetzt „aus dem Gröbsten raus ist“ und es wieder lockerer ist, kann ich auch hoffentlich endlich wieder mal zu Konzerten ins Kassa… 🤗

  2. Ahoi aus dem Norden, ein gutes Interview und an einigen Stellen dachte ich: Erzähl doch bitte mal weiter hier! Danke für dies nostalgiefreie Erinnern. Innere Bilder lassen schmunzeln, das Herz warm… Und Martin: Die Liste mit den feministischen Hiphopperinnen hab ich noch und meine Tochter beisst sicher an;) Bis bald hoffentlich!
    Inge

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