DJ Légères (links) und Ilja Gabler auf dem Gelände des Kassablanca Jena

Die Geschichte des Kassa ist vor allem Gegenwart, sie ist in Jena nur sporadisch sichtbar, aber sie ist ins kollektive Gedächtnis eingedrungen. Wie wichtig das ist, kann man gar nicht überschätzen, wie ich bei meinen Gesprächen mit und über zwei Freunde gelernt habe, die “Jena, Kassablanca” mit einem fetten Edding auf die Hip-Hop-Landkarte Deutschlands geschrieben haben: Ilja Gabler und DJ Légères.

Es ist Freitagabend, wir befinden uns am Strand 22, einer Bar mit Bootsanlegestelle in Jena an der Saale. Steht man am anderen Ufer des Flusses, unter einer der gewaltigen sonnengeschuppten Platanen, und schaut hinüber zum Strand, sieht man die weißen Fähnchen Dutzender Strandliegestühle im Wind flappen, was an das Sonnendeck eines Kreuzfahrtschiffes erinnert. Hin und wieder folgt eine Möwe hoch über dem Wasserspiegel dem Flusslauf, ein leuchtend blauer Eisvogel surrt zwischen seinen Sitzwarten in den Baumwurzeln, Eiswürfel klirren in Gläsern. Als es am Nachmittag gewitterte, sind viele Gäste gegangen, und meine Schicht als Barkeeper endete eine Stunde früher als geplant. Ich schicke eine WhatsApp an meine Interviewpartner: Ihr könnt jetzt kommen.

Eine halbe Stunde später schlendern sie herein: Ilja Gabler – von Kabarettist Rainald Grebe als “Inselbegabung”, von Deutschrap-Urgestein Flowin Immo als “der wohlsortierte Herr Gabler” bezeichnet – und Thomas Schläfer, Spitzname Olli (nach dem Skateboard-Trick), DJ-Name Légères.

Ille und Olli nennen sie sich gegenseitig. Sie sind Mitte 40, haben Jena nie verlassen (“Nö, wieso auch?”), wohnen mit ihren Familien im selben Haus, ihre Kinder machen gemeinsam Hausaufgaben. Kennengelernt haben sie sich 1994 beim Skaten vor dem Bau 59 im Stadtzentrum, das sie “Empire Späth Building” nennen, nach dem langjährigen Geschäftsführer von Jenoptik, Lothar Späth. Zusammen haben sie das Kassablanca zu einer der renommiertesten Locations für Hip Hop in Deutschland gemacht, ihre Partyreihe Boomshakalaka gehört seit 24 Jahren zum festen Programm des Clubs, und füllte bald nicht nur den alten Lokschuppen am Westbahnhof, sondern auch die Regionalbahnen, mit denen Breaker, Sprayer, Skater, Rapper und so weiter aus Weimar, Erfurt, Halle, Dessau, Leipzig, Chemnitz ins Kassa pendelten.

Wie in der anderen großen Subkultur, die im Kassa und damit auch im Stadt- und Flussbild Jenas aufblühte, dem Techno, sind auch aus der lokalen Hip-Hop-Szene mehrere große Musikkarrieren entstanden. Clueso, der aus der Nähe von Erfurt stammt und aktuell einer der erfolgreichsten Künstler in Deutschland ist, hat in seinem Wikipedia-Eintrag stehen: “Durch zahlreiche Jams im Jenaer Kassablanca und in anderen Städten Deutschlands konnte er seine Fähigkeiten als Rapper und Entertainer trainieren.” Diese Jams – das waren die Boomshakalaka-Partys.

Ein ganz anderes Beispiel ist Danny Engel, Manager von Wir sind Helden und Deine Freunde, von dem Ilja und Olli als 18-Jährige die Business-Seite der Musikwelt gelernt haben. Der Musikexpress schrieb 2010 in einem Portrait über ihn:

“(Er) ist ein Mann, der Sachen auf die Reihe kriegt. Ein Zuwegebringer, ein Bewerkstelliger, wörtlich übersetzt: ein Manager. Das ist sein Talent, das ist sein Beruf, den er mit ebenso bewunderns- wie beneidenswert zurückgelehntem Gleichmut ausübt. Wenn einen der Wahlhamburger, der seine Skillz vorrangig in den Dienst der hanseatischen HipHop-Szene stellt, in einem Biergarten in Kreuzberg über sein aufgeklapptes Laptop hinweg (Danny Engel hat so gut wie immer sein Laptop aufgeklappt und bewerkstelligt gerade irgendwas) angrinst und sagt: „Diese Band treibt mich in den Wahnsinn!“ (wobei außer einem kleinen Flackern in den Augen nichts an ihm auf Gestresstheit oder gar bevorstehenden Wahnsinn hindeutet), dann ist klar: Wir sind Helden sind wieder unterwegs.”

Danny leistete im Kassa seinen 13-monatigen Zivildienst ab, die Alternative zum damals noch verpflichtenden zehnmonatigen Grundwehrdienst. Er machte in dieser Zeit das Booking für Boomshakalaka. Der Mann hatte ein Händchen. 1997 holte Danny die Absoluten Beginner nach Jena, die sich ein Jahr später mit ihrem Album Bambule unsterblich machten. Ich glaube, ich war noch nie auf einer Party, auf der nicht mindestens die Hälfte der Leute mitrappen konnte, wenn jemand die immer gute Idee hatte, “Liebeslied” oder “Füchse” aufzulegen. Füchse sind keine Rudeltiere, das weiß man heute einfach, so wie man die Frisur von Franz Beckenbauer aus dem Jahr 1990 kennt. Das Kollektive Gedächtnis – das Kassa hat es mitgeprägt. Den besten Hip Hop konnte man hier sehen, wenn es am besten ist, eine Band/einen Künstler zu sehen: kurz bevor sie zu groß werden für die kleinen Clubs, und man sie nur noch in Stadien und auf gigantischen Festivalbühnen vom Weiten betrachten kann.

“Jeder meiner vermeintlichen Kollegen hat mir gesagt, in Jena, Kassablanca geht die Scheiße ab”, sagte MC Torch zum Beispiel bei einem seiner Auftritte hier. Torch gründete 1987 in Heidelberg zusammen mit “Funkjoker” Toni L. die Band Advanced Chemistry – ein Meilenstein der deutschen Hip Hop-Geschichte – und für falsche Komplimente nicht bekannt. Dafür mehr für gesellschaftskritischen, antirassistischen Rap – roh, wütend, perfekt. Nach Advanced Chemistry haben die Beginner ihr letztes Studioalbum benannt. Und wegen einem Scratchpart in deren Track “Chemischer Niederschlag” begann Thomas “Olli” Schläfer, Schallplatten mit Nadeln zu zerkratzen. “Das hat mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich praktisch sofort angefangen habe, mit dem Plattenspieler von meinen Eltern da irgendwie was zu probieren”, erzählte er mir. Aus Olli wurde Légerès, und aus dem Kratzer ein DJ, der von allen Musikern, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, als “der feinste Techniker” bezeichnet wird.

Genug Namedropping. Von all dem habe ich sowieso nur sehr wenig Ahnung, als Olli und Ilja sich auf den Weg zum Strand machen. Mit googlen findet man nicht viel mehr raus über die Beiden als eine endlose Menge an Aliasnamen (Ill-Jah, The Illest Jah, Ille Flavours), witzig klingenden Bandprojekten (Charlie Bucket Trio, Feindrehstar), Partyreihen (Tippi Toppi Daaaaance), Soundcloud-/Mixcloud- und Youtube-Sets sowie Links zum Theaterhaus Jena, dem Erfurter Zughafen, dem Kinderzirkus MoMolo oder dem Goethe-Institut. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht genau, was ich die Beiden fragen soll.

Ich fische bei Alex “Gletscher” Klette nach, seinerseits eine Institution unter den Barkeepern Jenas und mein Kollege am Strand, ob er die beiden kennt, und mir was über sie erzählen kann. Gletscher lächelt. “Na klar, die kenne ich seit…ach du scheiße, 20 Jahre, nee länger! Wir haben uns beim Skaten kennengelernt, so 94/95, da war Wendelin auch mit dabei, also Metaboman”, sagt er und zieht plötzlich die Stirn in Falten: “Aber du kennst die doch auch, die haben doch montags hier ein paar Mal aufgelegt: beim Fuchs.”

Richtig. “Fuchs am Montag”. Noch so eine Veranstaltung, bei der die beiden schon aufgelegt haben. Wie konnte ich das vergessen? Wir stellen eine Milchkanne voll Blumen auf den Tisch, an dem das Interview stattfinden soll, legen Decken auf die Sitzbänke, denn es wird langsam frisch. Mein schönes schwarzes Notizbuch lege ich auch schon mal hin, damit es so aussieht, als hätte ich viele gute Fragen vorbereitet. Ilja und Olli schlendern den Weg zum Strand rein, mit einem kleinen Grinsen und den subtilen abwehrenden Gesten, die man auch macht, wenn man von Oma nicht in die Backe gekniffen werden will.

Ich hole uns ein paar Bier, und wir setzen uns. Unter den Holzbalken der Bar flackern die Glühbirnen, und in die Gliedmaßen der verbliebenen Gäste hat sich ein allgemeines sommerlustiges Wippen eingeschlichen.

“Könnt ihr euch noch an die erste Veranstaltung erinnern, die ihr zusammen gemacht habt?”, frage ich Olli und Ilja.

Olli: Unseren ersten DJ-Gig hatten wir in einem Schülerclub…

Ilja: Im „Poker“ – das war in der Spezi, dem heutigen Carl-Zeiß-Gymnasium…

Olli: Da hast du dann auch wirklich alle Platten mitgenommen, die du hattest. Ille hat sich aufgeschrieben, welches Lied in welcher Reihenfolge mit welcher Geschwindigkeit. Zeigt halt herrlich, was für Anfänger wir waren, so ein bisschen wie ein Pianist, der sich die Tasten beschriftet.

Ilja: Meine erste eigene Veranstaltung habe ich dann im Theatercafé gemacht, 1996. Da war ich 18.

Olli: Und ich 16. nee, 17.

Ilja: Ich hatte dort mein großes Aha-Erlebnis, als ich DJ Smoking Joe auflegen sah. Das war eigentlich der erste richtige DJ hier in Jena, der Soul und Funk und Hip Hop spielte. Dieses Mischen von verschiedenen Stilen, dass verschiedene Songs ineinander übergehen und so, das war ja damals noch ganz neu. Joe hat auch DJ-Workshops im Kassa gemacht, da konnte man sich an richtigen Technics probieren. Bis ich mir einen eigenen Plattenspieler kaufen konnte, hat es ja noch ein paar Jahre gedauert, den hab ich mir von meinem ersten Zivildienst-Gehalt gekauft – aber das war natürlich auch nur ein Nachbau, kein original Technics, die ja bis heute der Standard für DJs weltweit sind.

Ilja: Wir waren auch tagsüber oft im Kassa, hingen da viel rum, es gab damals schon das Tagescafé mit der Inge (Ingrid Sebastian, C. G.), die ist Sozialarbeiterin und so ne Art Mutti gewesen, weil die immer da war. Wir hatten halt prinzipiell Bock, dieses DJ-Ding zu machen. Und im Kassa hatten wir die Möglichkeit, uns zu verwirklichen. Joe hatte am Anfang das Booking gemacht. Irgendwann meinte Joe: So, jetzt macht ihr das mal.

Olli: Ich hatte da auch noch gar keinen DJ-Namen, Inge hat dann einmal vorgeschlagen: DJ Légères, weil das auf so ner Gauloises-Schachtel drauf stand. Ich dachte: klar, klingt ganz gut, dann nehmen wir das doch.

Plötzlich steht Gletscher mit ernster Miene an unserem Tisch und sagt: “Ich hab gehört, es läuft schleppend, und ich soll ein kleines Schnäpschen vorbeibringen.” Vom Tresen aus winkt Carlos, der Chef vom Strand. Plötzlich erinnere ich mich, dass ich in den letzten Jahren, wann immer es ging, meine Bar-Schichten auf Montage gelegt habe. Stand der ausgestopfte rote Fuchs auf dem Tresen, wenn ich zur Arbeit kam, bekam ich sofort gute Laune. Als Barkeeper nehme ich DJs eigentlich selten wirklich wahr, denn wenn sie auflegen, dann hab ich ja grade am meisten zu tun, muss Tausend Bier aufmachen, Limetten ausquetschen, Pfefferminzblätter zupfen und Kästen schleppen, und wenn nach der Party jemand fragt: Und wie war das Set?, dann hab ich meist wenig zu sagen. Leider merke ich mir oft nur die Namen der DJs, die zu viel Platz einnehmen und im Weg sind, oder Extrawünsche haben, oder besonders viel trinken oder so (was aber wirklich nicht viele sind). Ilja und Olli habe ich mir nicht gemerkt, aber die Abende und die Musik schon, und automatisch drängen Bilder und Gesichter aus dem Hinterkopf hervor, die nach Namen suchen und Fragen, die man sich dann halt so stellt, wenn man einmal Memory Lane runtertrippt: Wie war ich eigentlich damals so drauf? Mit wem war ich da? Hab ich rumgeknutscht, gearbeitet oder gekotzt, getanzt, bin ich zu früh gegangen oder hab ich den Abend verlabert?

 Wir trinken unsere Schnäpse.

Olli: Ohne das jetzt im Nachhinein idealisieren zu wollen, aber die Subkultur Hip Hop hat damals wirklich auch stattgefunden. Hinter dem Kassa stehen ja heute noch die Waggons, das ist einer der wenigen Plätze in Deutschland, wo man legal Züge malen kann, das heißt ab Nachmittag war da Halligalli auf dem Hof, da ham die Kids gesprüht und Breaker waren auch immer fester Bestandteil der Party und hatten ihren eigenen Platz. Das war nicht die reine Konsumgesellschaft wie das jetzt eher so ist, dass man Konzerte konsumiert. Es hat auch zum Konzept gehört, dass es nach den Konzerten noch eine Party gibt, und niemand aus dem Club geworfen wird, bis der erste Zug morgens wieder fährt.

Olli: Es war ja auch nicht alles verfügbar. Es hat ewig gedauert, bis wir mal soweit waren, dass wir gesagt haben: ja, wir sind jetzt DJs. Heute kannst du dir von einem Kumpel die Festplatte mit 20.000 Songs besorgen, die Technik kann man sich mit Youtube-Videos draufdrücken, und gebrauchte Technik kostet auch nicht mehr die Welt.

Ilja: Wir sind regelmäßig mit Joe nach Berlin gefahren, um Platten zu kaufen, sind da einmal im Monat mit ihm im Auto hochgedüst.

„Glaub dem nicht!“, ruft plötzlich jemand dazwischen. Ille und Olli drehen sich um und lachen. „Da isser! The Legend“, rufen sie und zeigen auf einen Typ in Lederjacke: Es ist Andreas “Smoking Joe” Köhler. 1993 war der DJ, Schlagzeuger und Musikproduzent aus Ravensburg nach Jena gezogen. Er verliebte sich ins Kassa und in “Mutti” Inge und blieb. Ich treffe Joe ein paar Tage später zufällig wieder am Strand und ich kann ihn direkt mal ausfragen über wie das alles so war damals. Nach einem Stündchen Erinnerungsarbeit kriegt Joe so ein leichtes Zittern in der Stimme und sagt: “Ich bin wirklich stolz, was aus den Beiden geworden ist, also, ich meine, was als Menschen aus ihnen geworden ist.”

Ilja: Spuren hat das Kassa vor allem bei den Leuten hinterlassen, die da durch gegangen sind. Da sind auf jeden Fall ein paar Leute, die hier ihre Sozialstunden abgeleistet haben, und da andocken konnten, hier dann auch eine Lehre gemacht haben und Licht- oder Tontechniker geworden sind. Klar war Inge Sozialarbeiterin, aber das ist einem nicht so aufs Butterbrot geschmiert worden, das ist einfach passiert, dass die Leute das gut fanden wie der Umgang miteinander ist, und dass sie auch Verantwortung übertragen kriegen, auch als Lehrling. Wenn du ne Lehre zum Veranstaltungstechniker machst in einer Verleihfirma, da kannst du richtig in die Kacke greifen. Da lädst du dann den ganzen Tag nur LKWs ein und aus und machst das Lager sauber. Im Kassa hast du die Möglichkeit, dich ans Pult zu stellen und zu machen, dich auszuprobieren. Wir hatten das Glück, dass wir so einen Ort hatten. Sonst wär das schwer geworden.

DJ Légères (links) und Ilja Gabler im Kassablanca Jena
©C. Gesellmann

Seit Gründung des Kassa haben rund 80 Jugendliche ihre von Gerichten verhängten Sozialstunden hier abgeleistet. Etwa 100 Leute haben im Kassa ihren Zivi bzw. Bufdi gemacht – Olli zum Beispiel, aber auch Danny Engel, Wendelin Weißbach (Metaboman) Sören Bodner und Gabor Schablitzki (Wighnomy Brothers, Monkey Maffia, Robag Wruhme). Etwa 25 junge Menschen haben hier eine Berufsausbildung erhalten – zum Beispiel Ilja, der hier eine Lehre zum Tontechniker absolvierte, der Beruf, von dem er heute lebt. Ilja war der erste Azubi im Kassa.

Ilja: Künstlerisch und so beim Menschwerden hat uns das Kassa immer unterstützt, das Vertrauen war da, dass da von uns was kommt, was funktioniert. Wie man den Bühnensound macht, hab ich einmal gezeigt bekommen und dann musste ich das alleine machen, und damals waren viele Konzerte, drei-, viermal die Woche. Ich musste mir das alles von meiner kleinen Kanzel da oben über der Bühne reinziehen, Punk, Grindcore, Darkwave, Reggae, Stoner Rock. Das ist halt ganz cool gewesen, weil ich dadurch auch Sachen entdeckt habe.

Olli: Das war jetzt nicht die Intention, zu sagen, wir werden DJs. Denn das war zu der Zeit auch völlig unvorstellbar. Wir haben angefangen, klar gab’s da auch ein bisschen Kohle, aber da konnte kein Schwein von leben. Der Ansatz von Boomshakalaka war immer, dass wir Leute auf die Bühne stellen, die tatsächlich auch was zu sagen haben. Also, wir haben nicht den letzten Müll gebucht, nur um die Hütte voll zu kriegen. Der Anspruch war, musikalisch oder inhaltlich, gutes Zeug zu bieten.

In den Tagen nach den Interviews mit Ille und Olli, den Hintergrundgesprächen und dem Fact-Checking, wird mir bewusst: ich muss noch nicht mal irgendwo hingehen, um die Geschichte des Kassa zu verstehen, welche Spuren es in Jena hinterlassen hat, und welche Rolle Ilja und Olli dabei gespielt haben. Dafür brauche ich einfach nur hier am Strand sitzen zu bleiben. Die Geschichte des Kassa ist vor allem Gegenwart, sie ist in Jena nur sporadisch sichtbar, aber sie ist ins kollektive Gedächtnis eingedrungen. Wie wichtig das ist, kann man gar nicht überschätzen. Denn in Städten, wo es einen solchen Ort nicht gibt, wo sich Menschen, die sich für neue gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen begeistern, nicht verwirklichen können, fehlt nicht nur ein Stück Gegenwart. Diese Orte verlieren damit auch ein Stück ihrer Geschichte. Ich komme aus einer Stadt in Sachsen, die zur Wendezeit genauso groß war wie Jena, und kein Kassablanca hat, nie hatte. Das ist nicht nur ein sogenannter weicher Standortfaktor, es läuft für viele Jugendliche in Ostdeutschland letztlich auf eine Frage hinaus: bleibe ich hier, oder ziehe ich weg?

 Coole Leute, die etwas auf die Beine stellen, gibt es überall. Aber wo können sie sich verwirklichen, ohne Räume, ohne Vertrauen? Und wer erinnert sich einmal daran, was sie gemacht haben, wenn man sie später nicht mehr trifft, ihre Orte nicht mehr besucht, wenn es keine Anlässe gibt, die alten Mixtapes, Flyer und Fotos und Zeitungsausschnitte noch einmal rauszukramen? Würde es den Strand 22 heute in dieser Form geben, ohne das Kassablanca?, frage ich Carlos. Er schnauft ein wenig, weil die Frage so doof hypothetisch ist, ein bisschen so, als würde man eine Mutter fragen, ob sie sich schon mal vorgestellt hat, wie ihre Tochter aussehen würde, hätte sie einen anderen Vater, und sagt: “wahrscheinlich nicht.”

Christian Gesellmann ©Martin Gommel

Das Kassa feiert dieses Jahr seinen 30. Geburtstag! Ein Jahr lang werde ich mich als Stadtschreiber mit den Menschen treffen, die diesen einzigartigen Verein und Club geprägt haben, und ihre Erinnerungen aufschreiben – und natürlich mit Ihnen/dir teilen, hier auf diesem Blog, auf Facebook und Instagram.

Welche Geschichten und Erinnerungen verbinden Sie/verbindest du mit dem Kassablanca? Haben Sie/ hast du noch irgendwo alte Fotos von Ihnen/dir und Ihren/deinen Freunden im Kassa? Ich freue mich auf Post an: allesgute@kassablanca.de

  1. Ingrid Sebastian

    Das war ja erfrischend zu lesen… es ist wahr, das Kassa hat im Laufe der Jahrzehnte Lebensläufe geprägt und Lebens-Kultur geschaffen durch seine Existenz und durch die Menschen, die es verkörperten. Das haben die beiden gut auf den Punkt gebracht… (Außer, dass ich natürlich rechtschaffen erschüttert bin, wenn ich von den Kollegen als „Mutti“ beschrieben werde. Hat der Joe das auch so bestätigt? Ja, ich war damals im Zentrum des Geschehens und so gut wie immer da und für alle, habe mich aber eher als die „große Schwester“ gesehen… Aber da kann man wohl nix machen.) Anekdote am Rande: Sagt ungefähr 2010 der Danny im Backstage von Jan Delay, als wir uns in Rostock mal trafen: Hey Leute, das ist die Inge, ohne die wäre ich jetzt nicht hier! (Da war ich platt)
    Liebe Grüße nach Jena
    Inge

    • Christian Gesellmann

      Hallo Ingrid! Natürlich habe ich die Mutti-Aussage einem intensiven Faktencheck unterzogen. Drei im Artikel erwähnte mündliche Quellen bestätigten den Gebrauch – allerdings mit dem Zusatz, dies sei scherzhaft gemeint gewesen. Das Vorhandensein einer schriftlichen Quelle hat mich restlos überzeugt. Es handelt sich dabei um die Erwähnung von Ingrid „Mutti“ Sebastian in einer Danksagung im Booklet des ostdeutschen Hip Hop-Samplers Pioniermanöver Pt.2 (Vinyl, Doppelalbum, 1994).

      Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich auch Originalfotoaufnahmen aus dem beschriebenen Zeitraum einsehen konnte, die mir vollkommen berechtigt erscheinen lassen, dass du einen derartigen Spitznamen als unpassend, wenn nicht gar flegelhafte Frechheit empfindest. Ich empfinde es wiederum als Pflicht, der Gerechtigkeit und Vollständigkeit der Jenaer Geschichtsschreibung zu dienen und möchte deshalb bitten, dich schon bald über deine so erinnerungswerte Tätigkeit im Kassa und darüberhinaus befragen zu dürfen!

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