Eine Spurensuche von Charles Fréger in der Kunstsammlung Jena
Der Kurator der Kunstsammlung Jena, Erik Stephan, ist bekannt für sein Fingerspitzengefühl in Sachen zeitgenössische Kunst. Immer wieder überraschen seine Kunstausstellungen zur klassischen Moderne durch das neue Kontextualisieren von scheinbar Altbekanntem. Nicht selten präsentiert er aber auch Neuentdeckungen und weitet damit unseren Blick. Die aktuelle Fotoausstellung gehört zur zweiten Kategorie. Charles Frégers „Wilde Männer“ waren in Deutschland bisher noch nicht zu sehen. Wir freuen uns deshalb, dass uns Erik Stephan hier interessante Hintergründe dazu erläutert.
Vermutlich gibt es Masken schon weit länger, als die Quellen berichten. Sie verstecken und schützen ihren Träger und können schön oder hässlich sein. Vermutlich entstanden sie mit den Ideen von übernatürlichen Wesen, unabhängig von der Art des Glaubens – sie sind in allen Kulturen nachweisbar. Überraschend mag sein, dass auch heute noch Masken gebraucht werden, auch in Europa und meist im Zusammenhang mit festlichen Ritualen während der Winterzeit.
In den Jahren 2010 und 2011 durchquerte der französische Künstler Charles Fréger 18 Länder Europas. Von Nord nach Süd, von Finnland bis Portugal, über Rumänien, Deutschland und Slowenien war er auf der Suche nach der Figur des „Wilden Mannes“, wie sie in den lokalen Traditionen der Völker noch heute lebendig ist. Der Wilde Mann, im Englischen bekannt unter der Bezeichnung Wild Man und im Französischen unter l’Homme Sauvage, ist der Legende nach aus der Vereinigung von einem Bären und einer Frau entstanden. Verschiedenen Welten angehörig und aller Geheimnisse kundig, wird er gelegentlich als „Übermensch“ verehrt.
Diese archetypischen Charaktere – halb Mensch, halb Tier oder Pflanze – tauchen anlässlich ritueller, heidnischer oder religiöser Feste aus den Tiefen der Zeit wieder auf und feiern den Kreislauf der Jahreszeiten, Fastnacht, Karneval oder Karfreitag. In den Volksstämmen der europäischen Landbevölkerung stellten diese Mischwesen Schutzfiguren oder Fruchtbarkeitssymbole dar, die beispielsweise den Schrecken der kalten Jahreszeit ein Ende setzen sollten. Heute erinnern sie an eine Zeit, als unser Leben noch deutlicher vom Wechsel der Jahreszeiten, Ernte oder – noch früher – dem Erfolg bei der Jagd, bestimmt war. Die „Wilden Männer“ lassen sich als vielfältige Inkarnationen unserer ursprünglichen, engen Beziehung zur Natur lesen, auf deren Oberfläche das Tierische zum Vorschein kommt. Wenn der „Wilde Mann“ in Legenden durch unbewohnte Wald- und Berggebiete streift, verkörpert er die archaische Seite einer als unzähmbar geltenden Natur. Charles Fréger spricht von „einer zoomorphen Figur, deren grobe Erscheinung und rituelle Kleidung auf universelle Nacktheit verweisen.“ Ihre Bekleidung offenbart keine Haut, die menschliche Gestalt ist vollständig unter schwerem Pelz, Wolle, Glocken, Hörnern sowie anderen Materialien und Accessoires versteckt. Selbst die Gesichter der Verkleideten bleiben hinter Masken oder schwarzer Schminke verborgen, was den kreatürlichen Charakter noch verstärkt. Oft erinnern sie an Bären, Wölfe oder Hirsche, aber auch andere, fremdartige Wesen, Strohmänner oder Teufel.
Charles Fréger inszeniert diese Charaktere stets in einer natürlichen, oft weitläufigen Umgebung. Dabei nimmt er seine Fotografien auch außerhalb von Fest- und Karnevalszeiten auf und gönnt sich gewisse formelle Freiheiten gegenüber seinen Protagonisten. So lässt er bewusst bestimmte Dinge weg, zeigt sie von hinten oder arrangiert bestimmte Posen, die seinem nicht wissenschaftlichen, sondern poetischen Ansatz folgen. Von Beginn an war Fréger von Bekleidungen, Uniformen und ähnlichen Dingen fasziniert. Die Krampusläufe im Ostalpenraum lösten schließlich eine solche Faszination aus, dass er sich fortan intensiv den traditionsbeladenen Kostümierungen und Maskeraden verschiedener Kulturkreise widmete. Unerschöpflich betreibt er fotografische Bestandsaufnahmen, erkundet jene Bräuche, die einst den Takt ländlichen Lebens bestimmt haben. Diese Spurensuche hat Charles Fréger längst die Grenzen Europas überschreiten lassen, wo er die Bräuche Japans, der Gras-Indianer Louisianas, die Maskeraden der Nachkommen einstiger Sklaven in Zentralamerikas und die Inkarnationen indischer Gottheiten untersucht und fotografiert.
Die Serie des „Wilden Mannes“, auf die sich die Ausstellung konzentriert, bildet dabei ein unabgeschlossenes Hauptwerk, zu dem sich, dank neuer Entdeckungen, gelegentlich weitere Figuren gesellen. Immer wieder tauchen Geschichten auf, die für die von Fréger erforschten Regionen spezifisch sind und die sich in den Masken und Kostümen eindrucksvoll spiegeln. In der Ausstellung zeigen wir mehr als 100 Fotografien aus der Serie „Wilder Mann“ erstmals in Deutschland. Neben allen künstlerischen und religionshistorischen Überlegungen spiegeln sich im Interesse der Besucher aber auch andere und neue Überlegungen, die sich aus dem Zustand unseres Planeten ergeben. Die von Fréger fotografierten Menschen verweisen auf einen anderen, tiefen Zusammenhang mit unserer Umwelt und suchen die Verbindung zu Kulturen, die alles, was existiert, als lebende Bausteine eines systemischen Miteinanders begriffen haben. Egal ob heidnisch, animistisch oder wie auch immer diese innig gelebten Verflechtungen gelebt worden sind, der Umgang mit der Umwelt war immer achtsam und vermutlich deutlich nachhaltiger.
Charles Fréger hat die Ausstellung in der Kunstsammlung Jena selbst eingerichtet und war zur Eröffnung in der Stadt. Die Fotografien der Folge „Wilder Mann“ zählen zu seinen bekanntesten Arbeiten. Das Museum bietet mehrere Führungsformate an, z. B. Vom Krampus zum Julebukk. „Wilde Männer“ in Europa. Führungen können gebucht werden. Der Katalog ist an der Museumskasse erhältlich. Die Ausstellung ist noch bis zum 11. Juni in der Kunstsammlung Jena zu sehen.
An diesem Sonntag, 23. April 2023, 15 Uhr, können Sie sich einer Führung durch die Ausstellung anschließen und mehr erfahren über Charles Fréger und die „Wilden Männer“. Es lohnt sich!