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„Systemrelevanz“ – Wer oder was ist „systemrelevant“ oder auch nicht?

Mittendrin

Ein Gastbeitrag von Tilo Schieck

Als mich Jonas Zipf letzte Woche fragte, ob ich für den JenaKultur-Blog einen Artikel schreiben wollte, jetzt, wo man in den Zeiten der abnehmenden Aktivitäten und der langen einsamen Abende doch auch die Ruhe hätte, wieder langfristiger zu denken, an das Nach-der-Krise und die Einsichten für diese Zeit, hatte ich mir erst einmal eine Woche Bedenkzeit erbeten.

Tilo Schieck
Tilo Schieck ©privat

Zum einen, offen gesagt, ich hatte diese Ruhe nicht. Die Dauerbeschallung negativer Nachrichten, die immer schärferen Verordnungen und die sonnenbeschienene Stadt als unwirkliche Kulisse eines dort nicht mehr stattfindenden Lebens hatten in mir eher den Zustand des inneren Hamsterrades verursacht, desjenigen, der den Eindrücken entfliehen will und dies doch nicht schaffen wird (ehemals depressiv Erkrankten wird dieses Bild nicht unbekannt sein).

Und zum anderen entsteht jetzt eine Gefahr bei solchen Artikeln, nämlich die der Gefälligkeit. Jonas und ich sprachen über das Wort „Systemrelevanz“, genauer darüber, was Krisenstäbe, Politiker*innen und wohl viele Diskutant*innen auf Foren darunter verstehen und aufzählen, welche Bereiche denn als „systemrelevant“ für das Aufrechterhalten der Gesellschaft angesehen werden und welche eben gerade auch nicht und somit jetzt runter gefahren werden.

Und nein, es wundert nicht, dass kulturelle Einrichtungen es nicht auf die Liste geschafft haben. Dieses schmerzt, und daran ändert auch nicht, dass nun Verantwortliche lieber vom Erhalt sensibler Infrastruktur reden (zu der dann Kultur immer noch nicht gehört), von Verbänden schon die Wiedereröffnung von Bibliotheken und Buchhandlungen gefordert wird und viele persönlich im Nichterreichenkönnen erkennen, welche Bedeutung Kunst, Musik, Theater oder Kino für einen wirklich hatte (oder auch nicht …). Kommen einem noch die Gedanken an die betroffenen Klubs, Aktiven und Künstler einher, ja, dann sind sie da, die Solidaritätsadressen und Zusammenhaltsaufrufe.

Diese könnte ich nun mit kulturtheoretischen und zeitphilosophischen Betrachtungen untersetzen. Doch wie wohlfeil sind sie? Klar tut dies gut, diese Wärme, die da mitschwingt,  der Likebutton, der nach oben geht, die unverhofft andere Nähe beim Ukulelelernen auf YouTube, der wohlwollende Kommentar zum gestreamten Wohnzimmerkonzert oder dem Märchenpodcast und die Klicks für die Webcam aus dem Museum. Wenn dies noch in einen Verzicht auf die Rückerstattung schon bezahlter Eintrittsgelder oder den Erwerb eines Klubsolitickets mündet, umso besser.

Was passiert nach „Corona“?

Doch was passiert, wenn wir in einigen Wochen oder Monaten unseren Balkon verlassen, auf dem wir applaudierten, unsere eigene Arbeit wieder aufnehmen, in den normalen Alltag zurückkehren werden? Was werden wir aus der jetzigen Zeit mitnehmen, und was geben wir dann der Kultur? Haben wir am Ende nur applaudiert, um uns selbst zu hören?

Manchmal herrscht beim Publikum ja immer noch eine romantische Vorstellung von Kultur vor, dass die Selbstverwirklichung der Künstler*innen das in ihr ruhende eigentliche Wesen sei und sie quasi aus sich heraus immer wieder neu entsteht und ihre Wege zu uns findet, das schafft sie ja auch gegenwärtig über das Internet. Vielleicht hilft hier ein nüchterner Blick auf das, was „systemrelevant“ für die Kultur selbst ist, was unter diesem Blickwinkel heute zu tun wäre und nach der Krise zu verändern sein wird.

Gerade in Jena sollte dies möglich sein, lebt und finanziert sich Kultur doch hier (da wir in Jena jenseits einiger Universitätsmuseen keine landeskulturellen Institutionen beherbergen und auch die finanziellen Landesmittel in Gegensatz zu anderen Kommunen eher in die Stadt tröpfeln als fließen) aus der städtischen Gesellschaft selbst. Wo, wenn nicht hier, sollte es doch möglich sein, dies ganz unmittelbar zu besprechen und als Bürgerschaft zu verändern. Mir fallen drei Essenzen ein: Orte, Künstler*innen / aktive Organisator*innen, das Publikum.

1. Essenz „Kulturelle Orte“

Ich habe Sorge um die kulturellen Orte in unserer Stadt. Ohne diese Orte werden Künstler*innen auch in Jena nicht wieder auftreten und ausstellen können, sie sind das Skelett, an das sich die Inhalte anschmiegen können.

Nein, die bestehenden Einrichtungen von JenaKultur werden nicht verschwinden. Auch die laufenden Bauvorhaben am Volkshaus und für die Ernst-Abbe-Bücherei werden zu Ende geführt werden. Das ist schon ein Nebeneffekt des forschen Festklopfens des Stadionneubaus durch die Stadtspitze mit der Vertragsunterzeichnung genau in diesem Moment. Kein*e Politiker*in würde vermitteln können, dass in der Krise ein Stadion gebaut und dafür bei der Bibliothekseinrichtung gespart wird. Ok, vielleicht wird es jetzt keine Orgelsanierung geben, dann ist es so. Schwieriger wird es für zukünftige Pläne, das lange Gespräch, z. B. zur Kunsthalle, wird sich weiter verlängern. Aber vielleicht ergibt sich daraus die Chance, doch noch einmal zu diskutieren, ob für Jena ein Kunsthäuschen auf dem Eichplatz oder eine urbanere, großzügigere Variante angemessener wäre.

Nein, meine Sorge betrifft die größeren und kleineren Gegebenheiten, in denen sich in Jena die freie Kunst verortet, größerer Art wie Kassa und Theaterhaus, aber auch die kleinen Projekte wie das Trafo, Cosmic dawn, das Glashaus im Paradies oder die Proberäume für die Bewegungsküche. Hier könnte die Stadt jenseits der Sofortprogramme des Landes, das die entsprechenden Fonds auch für Kulturvereine geöffnet hat, konkret aktiv werden. Sind in Jena einmal Orte weg, werden sie nicht wiederkommen, so viel Realismus habe ich in den letzten 20 Jahren lernen müssen.

Ich rege an, dass die Stadt in Form ihres Immobilienbetriebes KIJ zunächst für das kommende halbe Jahr auf die Kaltmiete und Pachten für freie Kultureinrichtungen verzichtet. Das würde unmittelbar z. B. dem Kassa, dem Theaterhaus, dem Kunstverein, z. T. Momolo, dem Glashaus im Paradies und dem Kulturschlachthof zu Gute kommen. Natürlich ist das ein Eingriff in den Wirtschaftsplan und damit eine politische Entscheidung, die eigentlich von den zuständigen Ausschüssen und dem Stadtrat getroffen werden müsste. Fatalerweise hat sich die Kommunalpolitik in Jena derzeit selbst paralysiert und sich auf einen nicht beschlussfähigen Sonderausschuss reduzieren lassen.

Wir haben aber keine Zeit, und so wäre es wichtig, dass die Werkleitungen von KIJ und JenaKultur in Vorleistung gehen, ggf. mit Unterstützung des Oberbürgermeisters, und die politische Unterstützung nachträglich einholen. Würde dies gelingen, gäbe es genug Rückenwind, auch andere öffentliche Vermieter wie das Land oder JenaWohnen zu einem vergleichbaren Schritt ins Boot zu holen, was u. a. dem Café Wagner und der Rose helfen würde.

An vielen Vereinen, die andere Vermieter haben, würde diese Hilfe noch vorbeigehen. Hier sollte die Stadt selbst in unmittelbaren Kontakt zu den Vermietern treten. Wäre es nicht möglich, dass sie eine Mietbürgschaft aussprechen könnte? Auch dies hat Vorbilder in Jena, in den letzten Jahrzehnten hat die Stadt für den Fußballclub mehrfach gebürgt, warum nun nicht im Kulturbereich? Diese Bürgschaften könnten ja abgelöst werden, wenn die ausgefallenen Mieten im kommenden Jahr mit dann dafür gewährten gesonderten Fördermitteln zurückgezahlt werden würden.

2. Essenz „Initiativen“ und die Menschen dahinter

Hinter den Orten stehen als zweite Essenz Initiativen und dort einzelne Menschen, die sich nicht nur ehrenamtlich engagieren, sondern auch über Honorare und meist schlecht bezahlte Anstellungen ihren Lebensunterhalt sichern. Viele Vereine ordnen jetzt auch Kurzarbeit an, d. h. von schon geringem Nettoverdienst bleiben 60 bis 67 %. Auch hier wäre ein Signal der Stadt hilfreich, nämlich dass das dadurch eingesparte Geld nicht auf die Fördermittel angerechnet wird, sondern bei den Vereinen verbleiben kann – zur Aufstockung der Kurzarbeitsgelder ihrer Angestellten und für das In-Gang-Setzen der Kultur im Herbst und im kommenden Jahr. Förderrechtlich gesehen wäre das die Umwidmung von einer Fehlbedarfs- in eine Festbetragsfinanzierung einhergehend mit einer Verlängerung des Förderzeitraumes; die geneigte Leser*in kann dazu die Zuschussrichtlinien Jenas konsultieren. Das Gute dabei, dieses Geld war im Haushalt sowieso für Kultur verplant.

Dazu noch ein Wort zu den freien Künstler*innen selbst. Ich könnte jetzt jemanden aus meinen Bekanntenkreis in Jena erwähnen, aber ich will keine Rückschlüsse zulassen. Dafür ein weiter entferntes Beispiel: Jutta Ditfurth hat vor einigen Tagen als Publizistin und Autorin auf Twitter einen Hilferuf versendet und um persönliche Hilfe gebeten. Ich stehe ihr weder politisch nahe, noch mag ich den Weg der Bitte beurteilen. Aber die überwiegende Häme, die ihr auf den sozialen Netzwerken entgegenschlug, und das Unverständnis, warum man als 68-jährige keine Altersrücklage hat, machte mir eines deutlich. Die wenigsten wissen, was die Existenz als freie Künstler*in für den jeweiligen Menschen bedeutet, die Abhängigkeit davon, dass die Tournee, der Auftritt, die Buchveröffentlichung weitergeht. Und was es bedeutet, wenn auf einmal eine Pause da ist, die unbestimmt andauern wird. Dies sollte uns Anlass geben, darüber nachzudenken, wie wir künstlerische Existenzen zukünftig ermöglichen wollen. Derzeit läuft eine Petition für ein halbjähriges Grundeinkommen für Selbstständige im Kulturbereich, vielleicht sollten wir diese Diskussion noch intensiver über diese Zeit hinaus führen. Wären wir bereit, vergleichbare Gehälter zu den Tarifen öffentlicher Kultur auch in der freien Szene zu ermöglichen, und wären wir dazu bereit, für entsprechende Fördermittel zu sorgen? Und sind wir fähig, diese Diskussion genau dann zu führen, wenn nach der Coronakrise die öffentlichen Einnahmen gesunken sind und alle anderen Begehrlichkeiten da sind? Und können wir selbst etwas tun? Sind wir bereit, zukünftig mehr für unsere Tickets zu bezahlen, wenigstens eine Zeitlang einen „Corona“-Aufschlag? Immerhin sind derzeit die Künstler*innen über die ganzen Internetangebote mit Lesungen, gestreamten Konzerten, Podcasts und Fernunterricht auch jetzt, kostenlos für uns da. Die Clubs in Jena bieten uns mit zwo20 ihren eigenen Kanal und mit dem KLUB-SOLI-TICKET eine Möglichkeit an, schon etwas zurückzugeben.

3. Essenz „Wir“, das Publikum

Die dritte Essenz der Kultur sind somit wir, das Publikum. Und wir haben etwas von unserem Einsatz für die Kultur, für die Orte und Menschen der Kunst. Oben habe ich es angedeutet, viele von uns werden gestresst, verletzt, vereinsamt, fragend aus dieser jetzigen Zeit herausgehen. Kunst war immer ein Mittel, dies zu thematisieren, auszusprechen. Die Bilder, die gemalt und gezeigt werden, die Stücke, die wir in den Theatern sehen werden, die Lieder, die wir wieder live hören, werden wir vor dieser Folie wahrnehmen. Sie können sowohl unseren Schmerz wiedergeben wie auch die Freude des Überwundenhabens, unsere Einsamkeit und unsere neu gefundene Gemeinschaft. Egal, sie sind einfach da für uns, unseren Gefühlen, Gedanken, Assoziationen. Sie sind einfach da.

Tilo Schieck lebt in Jena und war viele Jahre der Vorsitzende des Werkausschusses von JenaKultur.

  1. Sehr schöner Beitrag – er spricht mir aus der Seele. Vielen Dank dafür!
    Als Veranstalterin der Lichtbildarena und freischaffende Reisejournalistin trage ich ohne städtische Unterstützung seit fast 20 Jahren zum Kulturgeschehen der Stadt bei…und habe seit Tagen schlaflose Nächte, wie es weitergehen soll. Immerhin verdienen mittlerweile 4 Familien damit ihren Lebensunterhalt…
    Ich würde mir wünschen, dass die Universität als Vermieter – oder die Stadt als Bürge – einen Teil der „Sorgenlast“ mit mir die trägt…

  2. Sehr geehrter Herr Mann,
    danke für Ihr kritisches Feedback, Wir freuen uns über jede und jeden, der jetzt zumindest moralisch unterstützend daran mitwirkt, dass Kultur in allen ihren Facetten weiterleben kann. Sie ist für unser Zusammenleben, für unsere Demokratie essentiell. Sie sollte uns weiterhin etwas wert sein.
    Unser Blog verdient nicht zuletzt wegen solcher substantiellen Beiträge wie jenem von Tilo Schieck mehr Aufmerksamkeit. Da haben Sie vollkommen recht. Wir arbeiten daran und sind auch dankbar für jegliche Unterstützung.
    Zunächst wünschen wir besinnliche Ostertage.

  3. Matthias Mann

    Lieber Tilo, ein sehr schöner Beitrag, weil er nicht nur nachdenklich die gegenwärtige Situation im Allgemeinen reflektiert, sondern auch ganz konkrete, kommunal umsetzbare Vorschläge enthält, wie man „der Kultur“ in der gegenwärtigen schwierigen Situation helfen könnte. Es wäre den in der Stadt Verantwortlichen zu wünschen, dass sie bei der aktuellen und künftigen Unterstützung für die Menschen, die in Jena wo auch immer in einem Bereich der Kultur tätig sind, den gleichen Mut und die gleiche Entschlossenheit aufbringen, mit der momentan in das Leben der Menschen eingegriffen wird bis hin zur – meiner Meinung nach überzogenen – Einschränkung verfassungsrechtlicher Grundrechte.
    P.S.: Dieser Blog ist übrigens nur zu finden, wenn man weiß, dass er existiert und ganz zielgerichtet sucht. Ist das der Sinn eines solchen Blogs?
    Viele Grüße

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