Allgemein Kultur in Jena Kulturförderung Villa Rosenthal Jena

Interview mit der aktuellen Clara-und-Eduard-Rosenthal-Stipendiatin Andra Schwarz

Eine blonde Frau mit zurückgebundenen Haar und blauem Shirt steht vor einer grünlichen Mustertapete.

Im vergangenen Jahr haben wir an dieser Stelle erstmals die damals amtierende Clara-und-Eduard-Rosenthal-Stipendiatin der Stadt Jena im Bereich Literatur & StadtschreibungVolha Hapeyeva – vorgestellt. In diesem Jahr möchten wir das Gespräch mit der diesjährigen Stipendiatin Andra Schwarz fortsetzen.

Andra Schwarz studierte nach einer Instrumentalausbildung in klassischer Gitarre am Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar Kunstgeschichte, Germanistische Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle und später Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie gewann 2015 den Lyrikpreis beim open mike und 2017 den Leonce-und-Lena Preis. Ihre dichterische Arbeit bewegt sich zwischen verschiedenen Polen: zum einen nehmen die Gedichte Erscheinungen der Gegenwart in den Blick und wagen sich an sensible Punkte Europas; zum anderen verhandeln sie Themen wie Versehrtheit und Intimität. Die Lyrikerin erhielt im Vergabeprozess nach der öffentlichen Ausschreibung 2024 das einjährige Aufenthaltsstipendium für ihren nächsten Gedichtband, der marginalisierte Frauen ins Zentrum rückt und sich mit Darstellungen von Weiblichkeit auseinandersetzt.

Liebe Andra, wie würdest Du es in deinen Worten umschreiben, mit welchem Arbeitsvorhaben hast Du Dich in Jena beworben und woran arbeitest Du gerade?

In meiner Zeit hier in der Villa Rosenthal Jena arbeite ich vorwiegend an neuen Gedichten für meinen nächsten Gedichtband, der sich mit dem Verschwinden der Frau auseinandersetzt und in einen interdisziplinären Dialog mit Werken aus verschiedenen Bereichen der bildenden Kunst tritt. Momentan suche ich nach einem neuen poetischen Ansatz, um eine geeignete Sprache für das Vorhaben zu finden und probiere diverse Möglichkeiten aus. Dabei recherchiere ich Material, besuche Ausstellungen, lese viel quer, arbeite am Konzept und begebe mich auf Spurensuche durch das Labyrinth des poetischen Prozesses. Das ist zwischenhin recht mühsam und raubt manches Mal Energie für andere Aufgaben. Daher bin ich überaus froh, dieser Suchbewegung hier freien Lauf lassen zu dürfen und mich vollumfänglich darauf zu konzentrieren.

Du bist nicht nur Lyrikerin, sondern auch Dozentin, Projektleiterin und Lektorin und setzt Dich in diesem Kontext für eine transdisziplinäre Literaturvermittlung ein. Was genau können wir uns darunter vorstellen?

Transdisziplinäre Literaturvermittlung stellt insbesondere die Arbeit an der Schnittstelle zu anderen Künsten und Medien in den Fokus, um auf diese Weise über mehr Varietät und Gestaltungsspielraum in der pädagogischen Praxis zu verfügen und so die Bandbreite literarischer Spielarten zu zeigen. Durch meine vielseitige künstlerische Ausbildung im Bereich der Musik, bildenden Kunst und Literatur, meine Affinität zu Theater und anderen darstellenden und performativen Formaten, zeige ich gern in Seminaren und Workshops das Spektrum der literarischen Auseinandersetzung auf, die sich – je nach Zielgruppe und Institution – sehr unterschiedlich gestalten. Entstanden sind dadurch Schreibworkshops im musealen Kontext, Audiowalks mit Kunstgeschichten zu Skulpturen im städtischen Raum, ein „Werkzeugkoffer“ für Kreativitätspädagog:innen, oder transdisziplinäre Literaturformate, entwickelt von Studierenden an der Universität Leipzig. Ich persönlich kann mich für viele Veranstaltungsformate begeistern und bin grundsätzlich offen, neue Möglichkeiten und Ansätze der Literaturvermittlung auszuprobieren. Gerade in der heutigen Zeit gibt es durch die mediale Diversität sehr viele spannende Ideen und Konzepte, Literatur dem Nachwuchs abseits des traditionellen Buchs nahe zu bringen, was meines Erachtens eine absolute Bereicherung für die Lehre darstellt.

Für die meisten Autor:innen spielt das Reisen eine große Rolle. Gehören die Reisetätigkeit und damit verbundene Einladungen in verschiedene Regionen der Welt auch für Dich zu einem festen Bestandteil deines Lebens? Und wenn ja, an welche Orte haben Dich diese Reisen in den letzten Jahren geführt? Welche Projekte lagen/liegen Dir hier besonders am Herzen?

Ich bin sehr froh, dass mich meine literarische Tätigkeit immer wieder an inspirierende Orte bringt, was in den letzten Jahren zu eindrücklichen Begegnungen geführt hat. Vor allem die Einladung zum Internationalen Literaturfestival nach Czernowitz in die Westukraine im ersten Jahr der Invasion Russlands in die Ukraine (2022), war eine besondere Erfahrung, nicht nur durch die äußere Bedrohungslage, sondern vor allem, weil mich langjährige Freundschaften immer wieder in die Ukraine führen und ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Land spüre.

Auch Projekte wie die Textentwicklung eines binationalen Musiktheaterstücks in Kooperation mit Burundi (2023) oder die Leitung einer Schreibwerkstatt am Issyk-Kul mit Deutsch-Studierenden im Rahmen des DAAD in Kirgistan (2023), sowie die Einladung zu einer Übersetzer:innenwerkstatt nach Sigulda in Lettland (2023) waren sehr bereichernd.

Es ist für mich ein unschätzbares Privileg, durch die Literatur mit anderen Menschen, Literat:innen, Autor:innen oder Übersetzer:innen aus verschiedenen Ländern in Austausch zu treten, ihre Perspektive auf Welt, Kultur und Literatur kennenzulernen, Dichtung als vieläugiges Wesen zu begreifen und dabei auch ihre außerordentliche Bedeutung in Krisen- und Kriegszeiten zu erkennen, so wie beispielsweise in der Ukraine, wo die traumatischen Ereignisse Eingang in die Literatur finden. Literatur bietet so gesehen die Möglichkeit zur Tiefenwahrnehmung und Sensibilisierung für die Ereignisse und Schrecken der Gegenwart, mit denen wir heute wieder in einem unerwarteten Ausmaß konfrontiert werden. Dies wird vor allem durch die unermüdliche Arbeit von Übersetzer:innen möglich, die uns mit ihrem genauen Blick einen Hauch von dem spüren lassen, was Poesie hinüberträgt in unsere Sprache – ein Windhauch über Grenzen hinweg.

Du hast im Podcast von MDR Kultur gesagt, dass Dir das Reflektieren, das „nicht immer Bespielen lassen“ und „in sich hören“ sehr wichtig sind. Wie pflegst Du diesen grundlegenden Gedanken der inneren Ruhe in deinem Alltag?

Idealerweise versuche ich mir den Tagesanfang möglichst freizuhalten, um besser in Kontakt mit mir zu sein und meine Wahrnehmung für ein mögliches Gedicht offen zu halten. Das bedeutet auch, die vielen Ablenkungsmöglichkeiten, mit denen wir heute durch die digitalen Medien konfrontiert sind, auszuschalten und den ersten Teil des Tages im „Flugmodus“ zu verbringen. Genau genommen ist das fast eine Metapher für den poetischen Prozess: hoch oben über den Wolken zu schweben, um aus der Entfernung auf sich selbst oder die Umgebung herabzuschauen. Das Schreiben gerät dabei manchmal ins Stocken oder in einen Strudel, was zu ungeahnten Turbulenzen führen kann, bei denen man durch schwere, dichte Wolken oder ein Gewitter hindurch muss bis man auf einmal Klarheit über die Landschaft gewinnt, in der man sich bewegt.

Du hast im Interview auch davon gesprochen, dass Dich Gedanken, Ideen, Worte, Menschen, insbesondere auch Musik berühren. Um das Momentum des Berührens aufzugreifen: was, ggf. auch wer, hat Dich in den vergangenen Monaten sehr berührt?

Ausgangspunkt für mein Schreiben ist häufig ein Vers, also ein Gedanke in gebundener Sprache. Dieser Vers ist wie ein elementares Versprechen, das mit seiner Aura auf das entstehende Gedicht ausstrahlt. Ein auratischer Moment also, der aus einer inneren Berührung mit einem Gegenstand hervorgeht und in Sprache übersetzt wird. Auch in der Lektüre von Gedichten gibt es diesen auratischen Moment – also die Strahlkraft eines Verses oder eines Wortes, der auf einmal wie ein Funke auf mich als Leserin überspringt, selbst wenn sich mir die Bedeutung eines Verses nicht gleich erschließt, sondern manchmal nur als Ahnung aufscheint.

Wenn man beschreiben müsste, was das Wesen eines Gedichts ausmacht, gerät man sehr schnell ins Straucheln, so verletzlich scheint die Natur von Gedichten, wenn wir sie fassen wollten. So gesehen kann ein Sprechen über Gedichte nur scheitern, da sie sich in dem Moment, wo wir glauben, sie zu fassen zu bekommen, gleich wieder entziehen. Das macht für mich den Zauber von Poesie aus und diesen Zauber erlebte ich zuletzt bei Nach Eden (Suhrkamp, 2024) von Daniela Seel, bei Mental Voodoo (Engeler, 2023) von Logan February, bei Aire (kookbooks, 2021) von Birgit Kreipe und immer wieder bei den Gedichten des polnischen Dichters Eugeniusz Tkaczyszyn Dycki.

Anfang 2023 erschien dein zweiter Gedichtband Tulpa (poetenladen). Was bedeutet der Begriff „Tulpa“? Und mit welchen Themen beschäftigten sich deine Gedichte in diesem Band?

Einband des Gedichtsbandes Tulpa von Andra Schwarz mit Klappentext und ISBN-Nummer in blau und grün gehalten
Abbildung Gedichtband „Tulpa“ gesamt | Quelle: Andreas Heidtmann

Der Band beschäftigt sich mit dem Phänomen des Unheimlichen, das als ästhetischer Ausgangspunkt für die Gedichte dient. Der Begriff der Tulpa aus der tibetischen Mythologie bezieht sich dabei auf ein aus Gedankenkraft geschaffenes Wesen, das in den Gedichten als wandlungsfähige Gestalt, Tier, Mischwesen oder Kind erscheint. Das Gedicht dient damit als Projektionsfläche für das Alter Ego des lyrischen Ichs und benutzt verschiedene Fallstricke wie die Figur des Doppelgängers, das Motiv des Unbewussten, das Tabu oder das Dilemma. So entstehen Traumgebilde, die mittels assoziativer Verfahren spontane Kippmomente erzeugen, welche den verstörenden Gestus des Unheimlichen berühren. Darin werden verschiedene Aspekte von Weiblichkeit wie Begehren, unerfüllte Mutterschaft und die Rolle in einer patriarchalischen Gesellschaft thematisiert und mit Verweisen aus der bildenden Kunst, Mythologie und Religion versehen.

Du kommst aus der Lausitz. Gibt es Erzählungen und Einflüsse aus deiner Heimat, die Dich und deine Wahrnehmung beeinflusst haben und / oder auch immer noch beeinflussen?

Ich wuchs auf einem Vierseitenhof gemeinsam mit meinen sorbischen Großeltern und Eltern in der Oberlausitz auf, der noch der sorbischen Tradition angehörte und der Landwirtschaft verbunden war. Die Krabatsage um die Schwarze Mühle am Koselbruch in Schwarzkollm und das Dubringer Moor mit dem Versunkenen Schloss sind Gegenden, die mich schon als Kind durch ihren magischen und unheimlichen Charakter fasziniert haben. Die Vorstellung, im Moor zu versinken, begleitete mich bereits in Kindheitstagen auf meinen Erkundungsgängen durch den Wald und löst auch heute noch ein Gefühl der Beklommenheit in mir aus.

Die Empfänglichkeit für derartige Schauergeschichten hat sehr wahrscheinlich auch meine literarische Entwicklung beeinflusst, aber vor allem die Landschaft, welche durch den Braunkohleabbau stark in ihrem Erscheinungsbild verändert wurde. Es ist ein Glücksfall, dass mein Herkunftsort nicht verschwunden ist und ich noch heute in den Kiefernwäldern an den Teichen spazieren kann. Das Verschwinden ist dabei ein zentrales Thema in meinen Gedichten, bedingt durch den Zusammenbruch der DDR und das nachfolgende Vakuum Anfang der 90er, welche die Region stark verändert hat. Zeitgleich verschwanden die sorbische Kultur aus den Dörfern meiner Herkunftsgegend und die sorbische Sprache aus den Mündern ihrer Bewohner:innen.

Die Nachfolgeerscheinungen der Wende haben einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen und sind noch heute in der Lausitz sichtbar, was auch in den Gedichten aus meinem ersten Band Am morgen sind wir aus glas (Poetenladen 2017) zur Sprache kommt. Meine eigene Familien- und Herkunftsgeschichte zeichnet auf mikroskopische Weise die Spuren des gesellschaftlichen Umbruchs nach und zeigt mir, wie umfassend die Menschen infolge der Entwicklung gravierende Brüche durchlebten, die ihre ganze Biografie schlagartig veränderte. Dieser Umstand hat mich äußerst sensibel für gesellschaftliche Veränderungsprozesse gemacht und offenbart die Verwundbarkeit des Einzelnen, was mit Blick auf die poetische Praxis genau genommen die Quelle – also die Achillesferse – für das Schreiben ist.

Aufnahme von dem Dubringer Moor, mit Gräsern bewachsen und im Hintergrund ein paar Kiefern und Birken.
Dubringer Moor | ©Andra Schwarz privat

Du hast selbst einmal gesagt, dass es absurd anmutet, sich in unserer heutigen Zeit mit Poesie zu befassen, da unsere Realität so wenig poetisch ist. Warum sollten sich die Menschen aus deiner Sicht mit Poesie beschäftigen?

Poesie ermöglicht einen Assoziationsraum, in dem wir frei flotieren und kreisen dürfen, dabei auf Überraschungen und ungeahnte Verbindungen stoßen, die uns auf unbekannte Wege führen, immer mit dem Potenzial sich zu verirren. Sie kann uns berühren, lässt uns in Schwingung geraten und bringt uns in Kontakt mit uns selbst.

Poesie gibt die Möglichkeit, sich und die Welt neu zu denken, Ideen zu formulieren, vieläugig durchs Dickicht der Sprache zu tasten, um nach Anschlüssen zu suchen und nach Verständigung auf dem Feld der Ungereimtheiten, um plötzlich wieder inmitten der Realität anzulanden.

Poesie bedeutet für mich, abstrakt oder ganz konkret im Fluss der Sprache zu baden, mich ritualisiert zu waschen, um den Körper und den Geist vom Alltag zu reinigen, und vom Gewicht der Außendinge zu befreien – Poesie als rituelle Handlung also, als Reinigung und kulturelles Gut.

Die blonde Lyrikerin Andra Schwarz sitzt an einem Pult mit Mirkorfon und liest aus einem Werk, das Publikum lauscht. Im Hintergrund eine große Fensterfront der Villa Rosenthal Jena von um 1900.
Andra Schwarz stellt sich dem Jenaer Publikum im Rahmen einer musikalischen Lesung (Tobias Klich an der Gitarre) am Tag der offenen Tür am 17. Mai 2025 in der Villa Rosenthal anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von JenaKultur | ©JenaKultur, I. Löwer

Alle Interessierten können Andra Schwarz im Rahmen der kommenden Poetryfilmtage in Weimar und / oder während der Thüringer Literaturtage auf Burg Ranis live erleben.

Liebe Andra, herzlichen Dank für deine Worte.

Und vielen Dank auch Ivette Löwer, Produktionsleiterin der Villa Rosenthal Jena, die das Interview führte.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden..