Vor fast 400 Jahren wurde in Weiden ein Mann geboren, der seiner Zeit weit voraus war: Erhard Weigel (1625–1699), Mathematiker, Astronom, Philosoph, Kalenderreformer, Pädagoge, Erfinder – und vor allem ein Visionär.
In einer Zeit, in der religiöse Autorität und rationales Denken um Deutungshoheit rangen, suchte er nach einer Ordnung, die Glauben, Vernunft und Naturerkenntnis in Einklang bringt. Weigel glaubte daran, dass Wissen, Vernunft und Moral untrennbar zusammengehören. Sein Denken war geprägt von Vertrauen in die Kraft der Vernunft, vom Mut zum Experiment und vom tiefen Glauben, dass Wissen die Welt verbessern kann. Weigel war kein Gelehrter im Elfenbeinturm; für ihn stand fest: Wissenschaft soll dem Menschen dienen – nicht umgekehrt.
Doch warum ist Weigel heute noch aktuell?
Vielleicht, weil sein Verständnis von Bildung, Wissenschaft und Verantwortung so klingt, als wäre es für das 21. Jahrhundert geschrieben.

Wie Weigel Wissenschaft lebendig machte
Als Weigel 1653 als Mathematikprofessor an die Universität Jena kam, war die kleine Saalestadt noch vom Dreißigjährigen Krieg gezeichnet – und doch ein Ort des geistigen Aufbruchs.
Weigel unterrichtete nicht nur Mathematik, sondern auch Astronomie, Physik, Architektur und Geographie. Für den Gelehrten war Wissenschaft keine abstrakte Theorie, sondern lebendige Praxis. Bildung sollte nicht nur reines Faktenwissen vermitteln, sondern auch die Fähigkeit zur Vernunft, Reflexion und ethischem Handeln fördern. In seiner Lehre verband er theoretische Genauigkeit mit anschaulicher Vermittlung – Wissen sollte erlebbar werden. Seine Lehrveranstaltungen waren innovativ, praxisnah und moralisch motiviert. Nach Weigels Überzeugung sollte der Mensch vernünftig denken, moralisch handeln und praktisch gestalten – im Einklang mit göttlicher Ordnung und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Weigel war dabei überzeugt, dass Vernunft und Glaube einander ergänzen können.
Weigel begriff Bildung als dialogischen Prozess, der Neugier weckt, Beobachtung schult und Denken strukturiert. Damit wurde er zu einem frühen Vertreter einer forschenden und verstehenden Lehre, deren Ziel es war, den Menschen umfassend zu bilden – sowohl intellektuell als auch moralisch. Sein Unterricht vereinte Erkenntnisstreben mit ethischer Verantwortung und stand damit exemplarisch für ein wegweisendes Verständnis von Wissenschaft als gesellschaftlicher Aufgabe.
Doch Weigel unterrichtete nicht nur Studenten. In seiner „Kunst- und Tugendschule“, die er in seinem Haus einrichtete, verband er Mathematik, Ethik und Handwerk. Kinder lernten durch Anschauung, Bewegung und Spiel – auf mechanischen Pferden, mit Modellen und Instrumenten. Seine didaktische Kühnheit und Einzigartigkeit der Schule zeigte sich auch in der „Schwebeklasse“, einer pendelnden Plattform mit Bänken, die Geist und Gedächtnis durch rhythmische Bewegung unterstützen sollte.
Bildung sollte nach Weigel den ganzen Menschen formen – Verstand, Herz und Hand gleichermaßen. In einer Zeit, in der Unterricht meist aus Auswendiglernen bestand, war das eine kleine Revolution – und für uns heute erstaunlich innovativ.
Wissen und Erkenntnis waren für Weigel keine Anhäufung toter Begriffe, sondern lebendige Erfahrungen, die mit allen Sinnen gemacht werden sollten: durch Beobachtung, Bewegung, Musik, Versuche und praktische Übungen. Für Weigel wurde Wissen erst dann wirksam, wenn Denken und Handeln zusammenfanden – ein Prinzip, das bis in die heutige Pädagogik und Wissenschaftsdidaktik fortwirkt.
Wissenschaft zum Wohle aller
Weigels Vermächtnis zeigt sich nicht nur in seinen Schriften und Erfindungen, sondern auch in seinem mutigen, streitbaren Geist, der das Wissen aus den Elfenbeintürmen der Gelehrsamkeit befreite. Er war einer der Ersten, die Wissenschaft als öffentliches Gut verstanden. In einer Zeit, in der Gelehrsamkeit meist an Universitäten und Höfe gebunden war, suchte er Wege, Erkenntnis in den Alltag zu tragen – eine Haltung, die man heute ‚Wissenschaftsvermittlung‘ nennen würde.
In der Mathematik sah Weigel dabei ein universelles Ordnungsprinzip, in der Pädagogik einen Weg zur Tugend, in der Technik sichtbare Vernunft und in der Astronomie ein Zeichen göttlicher Ordnung. Für Weigel war Wissenschaft nicht nur Suche nach Wahrheit, sondern auch Ausdruck ethischer Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Menschheit. In der Wissenschaft sah er einen Weg, Erkenntnis mit ethischer Verantwortung zu verbinden.
Der oft zitierte Ausspruch „Das Licht der Erkenntnis soll nicht im Turm brennen, sondern auf der Straße leuchten“ – der dem Pädagogen Johann Amos Comenius zugeschrieben wird – bringt Weigels Geist auf den Punkt. Wissen sollte nach seiner Überzeugung allen Menschen zugutekommen. Um diese Vision praktisch umzusetzen, entwickelte er Hilfsmittel zur Erleichterung des Alltags, aber auch vielerlei didaktische Instrumente – von Globen über Anschauungsmodelle bis zu mechanischen Apparaten. Diese machten Wissen sinnlich erfahrbar und können als Vorläufer moderner Lehrmittel gelten.
Für Weigel war Wissenschaft ein Dienst an der Menschheit, kein Machtinstrument. Sie sollte dem Wohl aller dienen – nicht dem Ruhm, nicht der Macht, sondern der Wahrheit. Weigels Vorstellung von einer Wissenschaft zum Wohle aller zeigt sich auch in seinem Streben nach einer neuen, einheitlichen Zeitordnung: Mit seinem „verbesserten Kalender“ schuf er Zeiteinigkeit in einem zeitlich gespaltenen Reich. Wissenschaftliche Präzision vereinigte sich mit dem Ideal gesellschaftlicher Harmonie.

Vernunft braucht Verantwortung
In seinem Haus in der Jenaer Johannisgasse richtete Weigel eine Art frühes „Science Center“ ein. Das Gebäude, das bald als eines der Sieben Wunder Jenas galt, war ein technischer Mikrokosmos mit Aufzug, Wasserleitung und begehbarem Globus. Mit Erfindungen wie der „Kellermagd“, die scheinbar Wasser in Wein verwandelte, wollte Weigel seine Gäste zum Staunen bringen und zeigen, dass die Fähigkeit zur vernünftigen Erkenntnis in jedem Menschen liegt und dass Wissen durch anschauliche Erfahrung und praktische Anwendung für alle begreifbar werden kann.
Mit seinen Erfindungen – darunter Himmelsgloben, Alltagshelfer und verschiedene Mess- und Lehrinstrumente – wollte Weigel zeigen, dass wissenschaftliche Erkenntnis praktisch anwendbar ist und der Vernunft, dem Nutzen der Gesellschaft und der Veranschaulichung göttlicher Ordnung zugleich dienen kann.
Seine Vorstellung, dass Wissenschaft, Alltag, Technik und Ethik untrennbar miteinander verbunden sind, macht Weigel auch heute relevant und liefert einen zeitlosen Leitgedanken – besonders angesichts heutiger Herausforderungen wie Künstlicher Intelligenz, Klimakrise und wachsender Wissenschaftsskepsis.
Weigels Haltung lässt sich mit einer Immanuel Kant zugeschriebenen Maxime zusammenfassen: „Wissenschaft ohne Tugend ist leer, Tugend ohne Wissenschaft ist blind.“ Diesen Gedanken verkörperte Weigel bereits im 17. Jahrhundert – für ihn waren Wissen und Moral zwei Seiten derselben Medaille: Erkenntnis ohne Ethik bleibt bedeutungslos, ethisches Handeln ohne Vernunft orientierungslos.
Warum uns Weigel heute noch inspiriert
Weigels Denken beruhte auf der Überzeugung, dass alle Wissenschaften einer gemeinsamen Ordnung folgen. Diese Vorstellung einer universellen Struktur des Wissens führte ihn zu seinem zentralen theoretischen Konzept, der mathesis universalis. Diese „universelle Wissenschaftslehre“ sollte alle Erkenntnisbereiche auf gemeinsame, rational nachvollziehbare Prinzipien gründen und so eine Einheit von Wissen und Vernunft herstellen. Aus dieser rationalen Ordnung leitete Weigel zugleich eine moralische Orientierung des Menschen ab.
Damit ist Weigels Ansatz nicht nur ein Zeugnis seines Innovationsgeistes im 17. Jahrhundert, sondern lässt sich auch als Vorläufer moderner interdisziplinärer Forschung verstehen: Die Idee, Wissen systematisch zu vernetzen, verschiedene Fachrichtungen miteinander zu verbinden und ethische Verantwortung in den Blick zu nehmen, spiegelt zentrale Anliegen heutiger Wissenschaft und Bildung wider. Auf diese Weise zeigt sich, dass Weigels Überzeugung, Vernunft, Erkenntnis und moralische Orientierung miteinander zu verbinden, bis heute relevant bleibt.
Weigel wusste: Wissen allein reicht nicht. Es braucht Verantwortung, Ethik und die Bereitschaft, Erkenntnis in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Dieses Prinzip machte ihn zu einem Vorreiter seiner Zeit. Obwohl er nach seinem Tod 1699 zunächst in Vergessenheit geriet, wurde er im 19. Jahrhundert als Pionier didaktischer Methoden und als Wegbereiter der Aufklärung wiederentdeckt.
Sein Werk erinnert uns daran, dass Aufklärung kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ist, sondern eine Haltung, die wir immer wieder neu leben müssen. Weigel mahnt, dass der Weg zu einer besseren Welt im beständigen Bemühen liegt, Wissen zu teilen, zu lehren und verantwortungsvoll anzuwenden.
Warum Weigel uns heute noch etwas zu sagen hat
In einer Zeit, in der wir über die Rolle von Wissenschaft, Bildung und Technologie reflektieren, wirkt Weigel wie ein Zeitgenosse. Er forderte, dass Wissen für alle zugänglich sein sollte, dass Lernen Freude bereiten sollte und dass wissenschaftliche Tätigkeit sowie praktische Anwendung stets moralische Verantwortung tragen sollten.
Das Stadtmuseum Jena widmet Erhard Weigel zu seinem 400. Geburtstag eine Ausstellung und führt damit seine Idee fort: Wissenschaft verständlich, zugänglich und sinnlich erfahrbar zu machen. Die Ausstellung ist eine besondere Zeitreise mit einem ungewöhnlichen Reiseführer: Dem „Popularisator“, einer erfundenen Erfindung Weigels, die Besucher:innen neugierig, gesprächig und voller Fragen durch die Ausstellung begleitet.
Tipp: Die Ausstellung „Wissenschaft zum Wohle aller! Erhard Weigel zum 400. Geburtstag“ im Stadtmuseum Jena lädt noch bis zum 15. Februar 2026 dazu ein, diesen außergewöhnlichen Denker neu zu entdecken – als Wegbereiter der Aufklärung, leidenschaftlichen Lehrer und kreativen Kopf, der mit Mut, Neugier und Fantasie seiner Zeit weit voraus war.
Kennen Sie manche Erfindungen Erhard Weigels bereits? Wann haben Sie das erste Mal von dem Jenaer Tausendsassa gehört? Wie immer freuen wir uns auf Austausch in unseren Kommentaren!



