Stadthistoriker Dr. Rüdiger Stutz über „seinen“ Tag der Stadtgeschichte
Bekanntlich bietet die Stadt Jena mittlerweile seit zehn Jahren den Tag der Stadtgeschichte an. Das neue Veranstaltungsformat habe ich von Anfang an mit großem Engagement begleitet, in gewisser Hinsicht als „mein Baby“ betrachtet. Denn ein entsprechendes Konzept entwarf ich seinerzeit im Kontext meiner Bewerbung auf die neu ausgeschriebene Stelle „Stadthistoriker/in“. Selbstverständlich ließ ich mich dabei von erfolgreichen Vorbildern solcher Veranstaltungen in Wissenschafts- und Universitätsstädten wie Darmstadt, Stuttgart und Halle/Saale leiten. Dennoch musste ich manches Lehrgeld zahlen.
Der erste Tag der Stadtgeschichte erinnerte in seiner Organisationsform noch eher an ein Symposium am Historischen Institut. Hinzu kam, dass auch einige MitarbeiterInnen von JenaKultur dem neuen, zusätzlichen Angebot im Veranstaltungskalender der Stadt zunächst skeptisch gegenüber standen. Die Tage der Stadtgeschichte mussten sich eben erst in der lokalen Erinnerungskultur etablieren und ein eigenes, unverwechselbares Profil gewinnen. Im Verlauf der Jahre gingen wir dazu über, die „frontale“ Ansprache des Publikums durch längere Vorträge mehr und mehr zurück zu nehmen, um stattdessen kompaktere Präsentationsformen auszuprobieren. Der Spaß- und Unterhaltungsfaktor gewann in unseren Überlegungen an Gewicht. Wir setzten fortan auf einen Multi-Media-Mix, auf Elemente aus der Kleinkunst und die Einbeziehung von Stadtrundgängen und Schülerprojekten. Dementsprechend wählten wir neue Veranstaltungsorte, etwa das Angergymnasium 2012 zum Thema „Jena macht Schule“. Am spektakulärsten gelang uns das fraglos auf dem Fünften Tag der Stadtgeschichte 2013. Dank der professionellen Techniker von JenaKultur und findigen Unterstützung seitens des VideoAktivs Jena e. V. konnten wir in zwei Räumen des Volksbades Jena den gesamten Tag über Ausschnitte aus Jena-Filmen zeigen, die dem Publikum einführend von Experten vorgestellt wurden. Den ältesten Filmschnipsel fanden wir im Bundesarchiv/Filmarchiv, datiert aus dem Jahr 1911.
Allerdings mussten sich meine damalige Kollegin und ich nach einem Jahr angestrengter und Nerven aufreibender Vorbereitung auch die Frage gefallen lassen, ob ein solcher Aufwand für eine Ein-Tages-Veranstaltung überhaupt angemessen sei. Damit ist das nach wie vor offene Problem angesprochen, wie eine nachhaltigere Wirkung des Tages der Stadtgeschichte in der Öffentlichkeit erreicht werden kann und wie sich aus dem jährlichen Veranstaltungsreigen noch ein größerer Mehrwert für die Bearbeitung der laufenden stadtgeschichtlichen Projekte gewinnen lässt.
Die Tage der Stadtgeschichte erheben den Anspruch, verschiedene Teile der Öffentlichkeit zu erreichen, nicht zuletzt, verschiedene Fachkreise mit einem vornehmlich städtischen Publikum zusammenzuführen. Das ist einfacher gesagt als getan. Mit Blick auf die Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert besteht die Herausforderung besonders darin, das Spannungsverhältnis zwischen ZeithistorikerInnen und ZeitzeugInnen anzunehmen und für unsere Diskussionen auf den Stadtgeschichtstagen produktiv zu machen. Es geht darum, Denkanstöße zu vermitteln und ein weiterführendes Suchen im Netz oder in der Literatur auszulösen.
Die Probe aufs Exempel müssen wir möglicherweise schon im nächsten Jahr antreten, wenn wir uns mit dem Thema „Jena 1945“ auseinander setzen. So planen wir, die Geschichte der Bombenangriffe auf Jena aus einer Städte vergleichenden Perspektive zu erzählen und dabei sowohl Experten als auch die Erlebnisgeneration, die sog. Kriegskinder, miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Stadtgeschichtstage müssen sich noch spürbarer zu einem Forum der sachlich-kontroversen Verständigung über markant divergierende Meinungsbilder entwickeln. Beispielsweise wissen wir heute dank neuester Publikationen und der Arbeit am Jena-Lexikon viel mehr über den seit 1935 organisierten, indes völlig unzureichenden Luftschutz für die Zivilbevölkerung und die verheerenden Tagesangriffe der amerikanischen Bomberpulks im März 1945. Doch im lokalen Gedächtnis schwingt noch immer – meistens unterschwellig und unausgesprochen – die Behauptung mit, der alliierte Luftkrieg habe militärisch zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn mehr gemacht und nur darauf gezielt, die deutsche Bevölkerung zu terrorisieren.
Mehr Mut zur Kontroverse würde ich mir auch mit Blick auf die DDR-Zeit wünschen. Drei Diskussionsrunden im Vorfeld der für die kommenden Wochen geplanten Veranstaltungen zur Erinnerung an die Revolution(en) in Ost- und Mitteleuropa 1989 verliefen nach meinem Geschmack allzu harmoniesüchtig. Mitunter gewann ich den Eindruck, die ostdeutsche Geschichte habe erst am 9. November 1989 begonnen. Auf den Podien berührten die Gesprächspartner die lange Vorgeschichte des heißen Wendeherbstes in Jena nur marginal. Ambivalenzen, wie sie für die betriebszentrierte Arbeitsgesellschaft der DDR so typisch waren, nachdenkliche Zwischen- und aufhellende Grautöne jenseits der wohlfeilen Helden-, Opfer- und Täter-Mythen blieben weithin ausgespart. Gerade den nachwachsenden Generationen ohne eigene Erinnerung an den autoritären Sozialismus müssen wir ein glaubwürdigeres und (selbst)kritischeres Bild vom Leben in diesem Staat vermitteln.
Auf dem Neunten Tag der Stadtgeschichte am 26. Oktober 2019 bietet sich dafür eine neue Chance, nutzen wir sie im gemeinsamen Austausch. Auch in der lokalen Gesellschaft lebt die Demokratie von Kompromissen. Und gerade in der Erinnerungskultur müssen diese immer wieder aufs Neue ausgehandelt und erstritten werden.
Haben Sie sich bereits mit Jenas Stadtgeschichte beschäftigt oder möchten mehr zu diesem Thema erfahren? Wir freuen uns auf Ihr Feedback!