Oder: Was macht eigentlich der Stadthistoriker?
Dr. Rüdiger Stutz gibt einen Einblick in seine Arbeit.
„Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“
Diesen Spruch bekam ich des Öfteren zu hören, wenn ich mich in meinem Arbeitsumfeld als Stadthistoriker vorstellte. Dabei bezogen sich die einen mit einem breiten Grinsen auf dieses Zitat, das gewöhnlich Winston Churchill zugeschrieben wird, andere hingegen mit einem eher skeptisch-herablassenden Unterton. Für mein berufliches Selbstverständnis erscheint mir wichtig, dass der Schweizer Publizist Ernst Reinhardt das angeführte Diktum um den Satz ergänzte: „[…] Aber die Nachwelt behält sich Korrekturen vor.“
Denn jede Zeit stellt andere Fragen an die Vergangenheit und bringt eigene historische Wahrnehmungsweisen hervor. Auch unser Bild von der Jenaer Stadtgeschichte unterlag in den letzten Jahrzehnten einem starken Wandel, flankiert von zahlreichen Deutungskonflikten, die aus der unterschiedlichen Nähe bzw. Distanz der Generationen zu den Verbrechen und Umbrüchen im vergangenen Jahrhundert resultieren. Die sehr kontrovers geführte Ibrahim-Debatte um 2000, die Umbenennung des Petersen-Platzes 2011 und auch der jüngst erzielte Kompromiss um die Gestaltung des Blinker-Denkmals auf dem Landgrafenberg belegen das.
Zudem umreißt der Nachsatz Reinhardts auch einen Gutteil meines Stellenprofils. Sei es nun, auf der Grundlage des im Sommer 2018 veröffentlichten Jena-Lexikons eine korrigierte, ergänzte und inhaltlich vertiefende Stadtbiografie online zu stellen, oder vorliegende Textentwürfe und Manuskripte gründlich zu überarbeiten. Das beständige Umschreiben der Geschichte(n) bezeichnet für den Historiker eine Daueraufgabe, um neue methodische Ansätze und fachliche Befunde aufgreifen zu können. In der postmodernen Mediengesellschaft steht ein Stadthistoriker damit zugleich vor der Herausforderung, Experten und interessierte Laien, Universität und Stadt, ältere und jüngere BürgerInnen miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie besteht darin, in der lokalen Gesellschaft „Brücken“ zu bauen, immer aufs Neue. Dazu dienten nicht zuletzt die öffentlichen Diskussionsrunden, Ausstellungsangebote und Führungen im Rahmen von bislang acht Tagen der Stadtgeschichte, die zwischen 2009 und 2018 stattfanden. Daneben ist ein Stadthistoriker immer auch als „Basisarbeiter“ gefragt. Ohne die enge Kooperation mit historisch ausgerichteten Arbeitskreisen, Geschichtsvereinen, Aufarbeitungsinitiativen und Archiven läuft nicht viel in Sachen Stadtgeschichte. Das schließt kommunale Einrichtungen und etablierte Bildungsträger der Stadt ein, beispielsweise die Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum aus Anlass des Schülerprojekttages im September.
Neue „Knoten“ in den bestehenden Netzwerken knüpfen zu wollen, erfordert allerdings für Anregungen und produktive Kritik offen zu bleiben. Mitunter benötigt man ein „dickes Fell“. Gute Nerven und Geduld sind ebenfalls hilfreich.
Ein solches Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen Initiativen und städtischen Institutionen trägt aber Früchte, wenn aus ihm eine spannungsvolle Wechselbeziehung zwischen einer reflexiven Stadtgeschichte und der kommunalen Imagepflege erwächst. Gerade mit Blick auf das „Zeitalter der Extreme“ im 20. Jahrhundert ist es unumgänglich, sich auch der „anderen“ Stadtgeschichte zu stellen, jenseits lieb gewordener Legenden und Erzählungen über das „gute, alte Jena“ in Dauerschleife. Denn das „Negative Erinnern“ an Vergessenes und Verdrängtes in der Geschichte Jenas kann unsere Selbstvergewisserung im Hier und Heute befördern.
Sicher haben Sie sich auch schon einmal Gedanken über das Nachwirken der Vergangenheit in unserer heutigen Zeit gemacht. Welche Auffassung vertreten Sie zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart? Wir sind gespannt auf Ihre Meinung!