Vielleicht haben Sie, liebe Leser:innen, in den zurückliegenden Tagen in den Medien etwas über unser großes bundesweites Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ vernommen? Am vorletzten Freitag fand unter einer großen Beteiligung die – virtuelle – Auftaktpressekonferenz dazu statt, und seither haben wir schon über drei Dutzend Verlautbarungen gezählt. Nicht zuletzt das zeigt die Ambitioniertheit des Projekts, das sich wie gesagt bundesweit aufgestellt hat und einem Thema widmet, das zumindest bei vielen komplett unterbelichtet ist: dem Rassismus und der wachsenden rechten Gewalt in unserer Gesellschaft.
Vor zehn Jahren flog der NSU-Komplex auf. Man erinnere sich an jenen denkwürdigen 4. November 2011, als in Eisenach ein Wohnmobil brannte, in dem sich zwei Leichen fanden, die später als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos identifiziert wurden. Die Tage und Wochen danach brachten – angeschoben durch deren Komplizin Beate Zschäpe – eine Mordserie zu Tage, die in vielerlei Hinsicht als beispiellos in der deutschen Nachkriegsgeschichte gelten kann. Die Morde an Enver Şimşek (2000), Abdurrahim Özüdoğru (2001) und İsmail Yaşar (2005) in Nürnberg, Habil Kılıç (2001) und Theodoros Boulgarides (2005) in München, Süleyman Taşköprü (2001) in Hamburg, Mehmet Turgut (2004) in Rostock, Mehmet Kubaşik (2006) in Dortmund, Halit Yozgat (2006) in Kassel und Michèle Kiesewetter (2007) in Heilbronn sowie weitere Überfälle und Anschläge, wie beispielsweise 2001 und 2004 in Köln, stehen nicht nur stellvertretend für die unzähligen Fälle rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Deutschland nach 1945.
Bis heute aber sind die Hintergründe des NSU-Komplexes nach wie vor unklar: Die Fragen nach den Verstrickungen behördlicher Organe, nach Mitwisser- und Mittäterschaft sind – trotz des langjährigen Prozesses – nach wie vor nicht befriedigend beantwortet. Der offene und latente Rassismus in Ermittlungsbehörden, das Erstarken und die Unterstützung durch ein wachsendes rechtsextremes Umfeld (re-)traumatisieren die Betroffenen und die Familien der Opfer bis heute und halten die Angst wach, als Mensch mit (post-)migrantischer Identität, jüdische, muslimische, Schwarze, indigene Menschen und als People of Color in Deutschland nicht sicher zu sein. Bis heute fehlen den Betroffenen das Verständnis und die Empathie großer Teile der deutschen Bevölkerung: Für Nicht-Betroffene ist es schlicht nicht vorstellbar, wie ein Leben aussieht, das täglich durch Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bedroht wird.
Was wir brauchen, um eine solidarische und freie Gesellschaft zu stärken, sind neben Wissen und Information über die Formen und Folgen von Rassismus insbesondere Empathie für Opfer und Betroffene sowie ein sicherer (Diskurs-)Raum für die Ängste, Erfahrungen und Anliegen von Menschen, die Rassismus erfahren. Rassistische Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, die vereinzelt für öffentliches Entsetzen sorgt, meist aber medial unbeachtet bleibt, ist leider Alltag in der Bundesrepublik Deutschland.
Auf Initiative unseres Werkleiters, Jonas Zipf, in enger Zusammenarbeit mit der Kuratorin Ayşe Güleç, den Dramaturgen Tunçay Kulaoğlu und Simon Meienreis sowie dem Soziologen Matthias Quent hat sich daher ein Kooperationsnetz von Theatern und Institutionen aus 14 Städten zusammengeschlossen, um vom 21. Oktober bis 7. November 2021 gemeinsam das interdisziplinäre Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ zu realisieren – mit dem Anliegen, die Taten und Hintergründe des NSU künstlerisch zu thematisieren.
Träger des Projekts „Kein Schlussstrich!“ ist der im September 2020 eigens gegründete Verein „Licht ins Dunkel e. V.“ Mitwirkende Institutionen sind: ASA-FF e. V. in Chemnitz, Theater Chemnitz, Dietrich-Keuning-Haus Dortmund (in Trägerschaft der Kulturbetriebe der Stadt Dortmund), Landestheater Eisenach / Meininger Staatstheater, Kampnagel Hamburg, Theater Heilbronn, JenaKultur, Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena (in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung), Theaterhaus Jena, Staatstheater Kassel, Schauspiel Köln, Münchner Kammerspiele und Real München e.V., Staatstheater Nürnberg, Theater Plauen-Zwickau, Volkstheater Rostock, Theater Rudolstadt, Deutsches Nationaltheater Weimar.
„Kein Schlussstrich!“ wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Außerdem erhält das Projekt bislang Förderungen durch die Bundeszentrale für politische Bildung, die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, die Innovationsförderung der Stadt Jena, das Kulturreferat der Stadt München, die Staatskanzlei Thüringen, die Initiative „The Power of the Arts“ der Philip Morris GmbH, die Rudolf-Augstein-Stiftung sowie die mitwirkenden Institutionen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft im „Licht ins Dunkel e. V.“
Neben diesem Kernprojekt – gerahmt von zahlreichen diskursiven und künstlerischen Veranstaltungen – wird Jena, die Stadt, aus der die Täter:innen kamen, sich auf vielfältige Weise mit dem Thema beschäftigen. Ein riesiges Netzwerk aus Kultur- und Bildungsträgern aber auch aus zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteuren plant ab Juni Ausstellungen, Diskussionen, Workshops, Vorträge, Lesungen und unterschiedliche Stadterkundungen.
Wir werden an dieser Stelle ab jetzt regelmäßig über das Projekt berichten und einige Programmteile genauer vorstellen. Wir würden uns freuen, wenn Sie das Vorhaben auf alle möglichen Weisen begleiten: als Gäste und Zuhörende, als Mitdiskutierende, aber vor allem auch als Multiplikator:innen für unser Anliegen, keinen Schlussstrich zuzulassen.