Allgemein Märkte & Stadtfeste

Sinne wie ein Luchs

Der Frühlingsmarkt von oben in Blickrichtung Bühne. Personen stehen auf dem Marktlatz verteilt übrall stehen Essens und Getränkebuden. Die Bäume auf dem Frühlingsmarkt blühen. Auf der Bühne spielt gerade eine Band.

Warum eine stille Stunde auf den Jenaer Stadtfesten nötig ist

„Sinne wie ein Luchs“ sagt man bewundernd, wenn Menschen kleinste Geräusche hören, geringste Gerüche wahrnehmen oder im Dunkeln nahezu scharf sehen. Doch dass so ein Luchs mitten im Stadtfest völlige Reizüberflutung erleidet, kommt oft nur Biolog:innen in den Sinn. 

Ungefähr so kann man sich vorstellen, wie ich (nun schon ergrauter Luchs) meine Umwelt wahrnehme. Jedes Ticken der Uhr, das Pfeifen eines „Handy-Ladegerätes“, das Rauschen des Wassers in der Heizung … alle Geräusche sind mir präsent, als sei ich ein Jäger auf der Pirsch und ich kann sie nicht „abschalten“ oder „einfach weghören“.

Wenn diese vielen Geräusche dann auch noch laut sind und viele Menschen durcheinanderreden und dann auch noch viele Gerüche dazu kommen und der Boden vibriert, weil in 30 Meter Entfernung ein LKW vorbeifährt und und und …

Dann kann „Hören“, „Riechen“, „Fühlen“ leicht die Schmerzgrenze übersteigen oder zumindest steigt der Overload bis hin zum Shutdown oder Meltdown, die bei neurodivergenten Menschen einen Selbstverteidigungs- bzw. Erstarrungsmechanismus darstellen, bei dem das rationale Denken nicht mehr möglich ist. Damit verbunden ist eine massive Ausschüttung von Stresshormonen, die von der Natur nur als „Booster“ vorgesehen sind, um „zu kämpfen oder zu flüchten“. Sind wir neurodivergenten oder hochsensitiven Menschen jedoch lange und häufig dieser massiven Ausschüttung von Stresshormonen ausgesetzt, werden wir körperlich krank. Es schlägt uns auf den Magen bzw. spielen Herz und Kreislauf verrückt.

Was den meisten Menschen als „gesellig“ gilt und Entspannung bedeutet, ist für uns das Gegenteil und die meisten von uns wünschen sich in solchen Momenten „normal“ zu sein.  

Die sehr empfindlichen Sinne sind sehr oft auch Mitmenschen eigen, die an einem postinfektiösen Syndrom wie PAIS, Long-/Post-Covid, Post-Vac, ME/CFS mit PEM u. ä. leiden. Viele von ihnen liegen in dunklen und schallgeschützten Zimmern. Sie leiden Höllenqualen, wenn Menschen in ihrer Gegenwart „normal“ sprechen, wenn die Tür quietscht oder ein Telefon klingelt, wenn die Sonne durch einen Spalt ins Zimmer fällt, wenn Gerüche aus der Küche dringen, wenn …  

Die o. g. Betroffenen können ihre hochempfindlichen Sinne nicht einfach „ausschalten“. Sie sind so geboren oder in Folge einer Erkrankung entstanden. 

Von „nicht weghören wollen“ oder „sich nicht zusammenreißen können“ kann hier keine Rede sein.

Ein toxisch intensives Umfeld verursacht bei ihnen vielfältige körperliche und psychische Folgeschäden.

Um dieser Form der „unsichtbaren“ Behinderung gerecht zu werden, hat die Stadt Jena die „Stille Stunde“ für die beiden Stadtfeste Jenaer Frühlingsmarkt & Jenaer Altstadtfest und den Jenaer Weihnachtsmarkt eingeführt.

Im Rahmen des Jenaer Weihnachtsmarktes 2024 konnten erstmalig entsprechende Erfahrungen mit einer „Stille Stunde“ jeweils donnerstags von 11 bis 12 Uhr gesammelt werden. Dabei gab es sowohl von den Betroffenen, als auch von Gästen positive Rückmeldungen, sodass dieses besondere Angebot nun wochentags von 11 bis 12 Uhr fortgesetzt werden soll.

Das Konzept ist global deutlich weiter berücksichtigt als in Deutschland. Die „Stille Stunde“ ermöglicht z. B. in Supermärkten, auf Ämtern oder in Arztpraxen Inklusion und Teilhabe.

Viele Kitas, Schulen, Hochschulen und Arbeitgeber außerhalb Deutschlands haben die sensorische Überempfindlichkeit erkannt und in ihren Konzepten berücksichtigt.

Jena ist der Leuchtturm für Fortschritt in Thüringen und möchte seiner Rolle auch auf diesem Gebiet gerecht werden.

Wichtige Impulsgeber sind neben den Betroffenen und Angehörigen, auch die Forschenden unserer Stadt, die zu Autismus, Long-/Post-Covid, ME/CFS präsent sind.

Euer Stefan von Rein,

Fatigatio e. V. | Aspies e. V. | ADHS-Deutschland e. V.

  1. Super! Wunderbar, Freunde treffen ohne sofort „voll“ zu werden von zu vielen Geräuschen.

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