Inklusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess – und dieser beginnt oft mit einem kleinen Schritt. An der Musik- und Kunstschule Jena hat sich in den vergangenen Jahren viel bewegt: Aus ersten Ideen, Engagement und einem tiefen Wunsch nach echter Teilhabe ist ein lebendiges Miteinander entstanden. Ob im Förderzentrum, in den Wohnstätten der Lebenshilfe oder bei öffentlichen Projekten – Musik und Kunst schaffen Räume der Begegnung, in denen Vielfalt sichtbar und hörbar wird. Dieser Blogbeitrag gibt einen Einblick in unsere bisherigen Erfahrungen auf dem Weg zur Inklusion.
Es ist wieder Freitag…
…mit diesem Lied von Marianne Steffen-Wittek begrüßen wir uns jede Woche am Freitagvormittag im Förderzentrum Jena. Textsicher und voller Begeisterung singt Milan* mit, Sasha beeindruckt uns mit seinem Talent im Beatboxing, Mustafa stampft kraftvoll mit den Füßen, als er dran ist. Unterstützt durch ihre Schulbegleiterin hebt Lena langsam den Arm und die anderen machen es nach. Hier darf sich jeder und jede mit den eigenen Fähigkeiten einbringen. Die Stimmung ist positiv, mitreißend, das Lied vertraut.
Seit September 2024 treffen wir uns einmal wöchentlich im Förderzentrum und musizieren dort mit insgesamt 28 Schüler:innen in zwei Gruppen. Wir erleben hier eine Vielfalt, wie wir sie in der Musik- und Kunstschule sonst nicht kennen: Unsere Gruppen sind gemischt in Bezug auf das Alter der Kinder und Jugendlichen, auf Art und Schweregrad von Behinderungen; viele der Schüler:innen haben eine Migrationsgeschichte. Wir erleben Musik als verbindendes Element, als Brücke, die uns auch ohne gemeinsame Sprache einen Weg zueinander ebnen kann. Und manchmal auch als Reizüberflutung…
Wir erleben Momente, in denen wir nicht wissen, ob wir eine Schülerin oder einen Schüler gerade erreichen können – und andere, in denen plötzlich etwas Großartiges passiert: Faisal, der so engagiert und rhythmisch die leeren Saiten der Gitarre anschlägt, dass er die ganze Gruppe mitreißt. Johannes, der den „Tanz der wilden Pferde“ schon singt, bevor wir ihn angestimmt haben und uns damit dazu bringt, unseren Plan spontan umzuwerfen. Aleyna als begeisterte Dirigentin beim Spiel „Büffelherde“, Celia, deren Augen aufleuchten, als sie mit dem Schlegel einen Klang auslösen kann.
In der ersten Gruppe ist das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen fast ausgeglichen. Nur so ist es möglich, dass auch die Schüler:innen mit Schwerstmehrfachbehinderungen sich beteiligen können. Das Projekt ist für alle kostenlos und findet in ihrem Schulalltag statt. Niemand soll wegen fehlender finanzieller Mittel ausgeschlossen sein.
*alle Vornamen wurden geändert




Alles muss klein beginnen…
Im November 2022 trafen wir uns als Kollegium zu einer Online-Lehrerkonferenz, die dem Thema Inklusion gewidmet war.
„Jeder Mensch ist ein Teil der Summe aller Menschen, weil er da ist.“
Handreichung des VdM für Inklusionsbeauftragte
Dieser Satz, zu lesen in der Handreichung des VdM für Inklusionsbeauftragte, beschreibt in seiner Kürze sehr gut, was Inklusion bedeutet: Wenn Inklusion gelebt wird, gehören alle dazu, ohne dass sie dafür erst einmal bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Was sich in der Theorie gut anhört, ist in der Praxis ein langer Prozess.
Im Jahr 2014 wurde vom VdM die Potsdamer Erklärung verabschiedet, in der sich der Verband zum Leitbild einer inklusiven Gesellschaft bekennt und Wege zur Entwicklung hin zu einer Musikschule für Alle aufzeigt. Die hier formulierten unterschiedlichen Perspektiven auf Inklusion – Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, Kulturelle Vielfalt, Geragogik und Begabtenförderung – machen deutlich, dass Inklusion ein Querschnittsthema ist, das alle Menschen in irgendeiner Form betrifft.
Im Zuge unserer Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion reflektierten wir, wo wir als Musik- und Kunstschule in diesem Prozess stehen. Zu unseren Schüler:innen gehören Menschen vom Säuglings- bis zum Seniorenalter, wir haben ein internationales Kollegium und Angebote elementarer Musikpädagogik gibt es ebenso wie eine Förderung für Hochbegabte.
Aber wir mussten uns auch eingestehen, dass wir Menschen mit Behinderungen nur vereinzelt erreichten und sehen hier einen besonderen Handlungsbedarf, um dem Menschenrecht auf Bildung und kulturelle Teilhabe (UN-Behindertenrechtskonvention 2006/2009, Artikel 24 und 30) als Schule gerecht werden zu können.
Nach der Konferenz fand sich ein Team von drei Kolleginnen (Alexandra Daut, Besjana Cegrani, Deborah Steiner) mit dem Ziel, ein gemeinsames Musik-Kunst-Projekt auf die Beine zu stellen, mit dem wir vor allem Menschen mit geistigen Behinderungen erreichen wollten. Unterstützt von Schulleitung und Verwaltung wandten wir uns mit unserer Idee an die Lebenshilfe Jena.
Klangfarben und Farbklänge
Im Dezember 2022 trafen wir uns erstmals mit unserer neuen Gruppe – acht ältere Herren, die mit dem Fahrdienst aus verschiedenen Wohnstätten der Lebenshilfe nun einmal wöchentlich zu uns kamen. Mit ihnen gemeinsam sangen wir, musizierten mit Orff-Instrumenten, bewegten uns. Nach dem musikalischen Teil probierten wir mit unseren Teilnehmern unter Anleitung von Alexandra Daut verschiedene Kunsttechniken wie Pastellmalerei, Collagen oder Druck aus. Einen Teil der entstandenen Bilder zeigten wir im Schulhaus und im Rahmen einer kleinen Ausstellung beim SchrankenLos!-Festival. Eines der Bilder wurde in den Kunstkalender des Jahres 2024 aufgenommen.

Unsere ersten Stunden waren geprägt von einem stetigen Ausprobieren. Wir mussten erst einmal Erfahrungen sammeln. Was wir von Anfang an erlebten, war eine große Freude und Dankbarkeit bei der Mehrheit unserer Teilnehmer und ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit mit dem wir aus diesen Stunden gingen.
Am Ende des Schuljahres gaben wir einen Workshop mit dem Namen „Klangfarben und Farbklänge“ beim SchrankenLos!-Festival. Unsere Teilnehmer:innen waren eine Wohngruppe der Lebenshilfe und eine Familie. Menschen mit und ohne Behinderungen musizierten und malten gemeinsam und die Begegnung war für uns alle eine Bereicherung.
Kulturelle Teilhabe und Begegnung
Beflügelt von der positiven Erfahrung beim SchrankenLos!-Festival beschlossen wir, unser Projekt zu öffnen und zu einem Raum der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen zu machen. Wir boten das Projekt im Schuljahr 2023/24 zehn Mal an und luden auf der Website und über Aushänge dazu ein. Die Termine konnten kostenlos und unabhängig voneinander besucht werden und die Hälfte der Termine fand am Wochenende statt. Zu der von uns erhofften Begegnung kam es jedoch trotzdem nicht. Berührungsängste?
Auf der Suche nach einem anderen Format, das Begegnungen ermöglicht, wurde die Idee der Kurzkonzerte in den verschiedenen Wohnstätten der Lebenshilfe geboren. Das 1. Kurzkonzert fand bei schönstem Sonnenschein am 10. Juni 2024 in der Wohnstätte „Am Jenzig“ auf der Terrasse statt. Es spielten ein Klarinettenquartett von Felicitas Ressel und ein Blockflötentrio von Deborah Steiner. Das Publikum war klein, aber sehr begeistert. Wir wurden ausgesprochen freundlich aufgenommen und einer der Bewohner bat unsere Schüler:innen im Anschluss des Konzertes um Autogramme. Mit den Kurzkonzerten haben wir ein Format gefunden, das für alle gewinnbringend ist: Unsere Schüler:innen haben die Möglichkeit, in einem kleinen Rahmen und in sehr wohlwollender Atmosphäre Auftrittserfahrungen zu sammeln. Die Bewohner:innen können in vertrauter Umgebung Konzerten lauschen und bei den gemeinsamen Liedern mitsingen. Durch die Begegnung können Berührungsängste, Hemmungen und Vorurteile abgebaut werden. Die Rückmeldungen der Schüler:innen, die teilgenommen haben, waren sehr positiv.




Inzwischen fanden fünf Kurzkonzerte in drei verschiedenen Wohnstätten in Jena und Kahla statt. Beteiligt waren Schüler:innen aus den Klassen von Felicitas Ressel, Antje Taubert, Klaus Wegener, Deborah Steiner und Simone Kayser.

Neben den Kurzkonzerten gibt es auch eine Fortsetzung unseres ersten Projektes: Fünfmal im Schuljahr fahren wir vormittags in die Wohnstätte „An der Kelter“ und musizieren dort mit einer Seniorengruppe.
Austausch, Vernetzung und Weiterbildung
Wir hatten das große Glück, dass wir uns schon zu Beginn unserer Projektarbeit mit Gleichgesinnten im neugegründeten Netzwerk Inklusion des VdM Thüringen austauschen konnten. Etwa halbjährlich trifft sich das Netzwerk online oder in Präsenz. Am 15. März dieses Jahres fand der zweite Fachtag Inklusion des Netzwerks in Weimar statt.
Bei Anke Bak, der Landesbeauftragten für Inklusion des VdM Thüringen, durften wir hospitieren und eine Probe des Ensembles Montagsmusik miterleben. Die Jugendlichen und Erwachsenen, die wir dort kennenlernten, sind alle verbunden durch ihre große Begeisterung für das gemeinsame Musizieren. Die Mitglieder des Ensembles haben das Instrumentalspiel auf Blockflöten, Violinen, Trompete, Klavier und Klangbausteinen mit der „Max Einfach“-Methode von Robert Wagner erlernt. Sie musizieren mehrstimmig – jede und jeder ganz individuell auf das eigene Können abgestimmt. Als Gäste fühlten wir uns sehr willkommen und durften ganz selbstverständlich mitspielen.
Die Probe in Schmalkalden motivierte und ermutigte uns für unsere eigenen Projekte. Ein inklusives Ensemble wie die „Montagsmusik“ in Schmalkalden gibt es bei uns noch nicht. Aber wir konnten sehen und hören, was alles möglich ist.
Um das notwendige Handwerkszeug für unsere Arbeit zu erlernen, qualifizierten wir uns weiter. Besjana Cegrani absolvierte den Berufsbegleitenden Lehrgang für Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderungen an Musikschulen (BLIMBAM) in Remscheidt und Deborah Steiner den Berufsbegleitenden Lehrgang für Elementare Musikpraxis in Sondershausen.
Wie geht es weiter?
Eine Fortsetzung unserer Gruppenangebote im Förderzentrum und in den Wohnstätten der Lebenshilfe ist in Planung. Ein inklusives Ensemble wie die Montagsmusik ist momentan noch ein Traum in der Ferne – viele kleine Schritte sind notwendig, um dorthin zu gelangen. Wir hoffen, dass wir mit unseren Projekten Menschen mit Behinderungen Freude am Musizieren vermitteln und einigen darüber auch den Weg zu einem instrumentalen Einzelunterricht ebnen können.
Unser Motto bleibt:
„Es ist wieder Freitag
Ja, die Band sind wir.
Trommeln, Gong, Triangeln spielen wir und Klavier.
Mit der Stimme gehn‘ wir
Runter oder rauf.
Wir erfinden selbst Musik und führen sie auf.
Wir sind also da, wir sind also hier.
Ja, dann kann es losgehn‘, denn die Band, das sind wir!“
Vielen Dank für den Beitrag und die spannenden Einblicke an Deborah Steiner, Blockflötenpädagogin und Inklusionsbeauftragte an der Musik- und Kunstschule Jena.