Der Todesmarsch der Buchenwald-Häftlinge ging am 11. April 1945 quer durch Jena

Am 11. April 1945, in den Nachmittags- und Abendstunden, wurden in mehreren großen Kolonnen über 4500 geschundene Menschen quer durch Jena getrieben, bewacht von 250 schwerbewaffneten SS-Leuten mit Hundestaffeln, vermutlich auch verstärkt durch Jenaer Polizeikräfte und Volkssturmleute. Es war dies der letzte der sog. Todesmärsche, mit denen die Lagerverwaltung des KZ Buchenwald versuchte, das Lager noch vor der Einnahme durch US-Truppen zu evakuieren. Am gleichen Tag konnten die dort noch verbliebenen Häftlinge, mehr als 20000, befreit werden, darunter 904 Kinder aus dem „Kinderblock 66“.  

Der „Leidenszug, wie er nicht schlimm genug geschildert werden kann“ (so ein Zeitzeuge), begann am Abend des 10. April am Lagertor von  Buchenwald und führte nach 7 km zum Güterbahnhof Weimar. Dort wurden die Häftlinge noch in der Nacht in eine große Zahl von Viehwaggons gepfercht. Der Transportzug kam nicht weit: Kurz vor Großschwabhausen wurde die Lokomotive von US-Tieffliegern zerstört. Erst am Nachmittag begann der Fußmarsch in östlicher Richtung. Die Häftlinge wurden immer wieder brutal zu höherem Marschtempo angetrieben. Es ging mitten durch den Ort, danach durch den Jenaer Grund, durchs Mühltal, auf zwei verschiedenen Routen durch den Jenaer Weststadtteil und durch die schwer zerstörte Innenstadt.

Von der Camsdorfer Brücke, die nur wenige Stunden später gesprengt wurde, wurden die Leidenskolonnen durch die heutige Karl-Liebknecht-Straße und weiter stadtauswärts getrieben. Einigen Häftlingen gelang beim Marsch durch die Stadtgebiete die Flucht. Viele wurden, weil sie erschöpft waren und nicht mehr weiter konnten, schwer misshandelt, kaltblütig erschlagen oder erschossen und blieben am Straßenrand liegen. All dies geschah unter den Augen der Jenaer Bevölkerung, auch vieler Kinder. Es gab Versuche, mit Wasser oder etwas zum Essen zu helfen, was von den Bewachern brutal unterbunden wurde.

Es gibt keine Bilder von diesem verbrecherischen Geschehen mitten in unserer Stadt, von den vielen Opfern, von den Tätern. Es gibt aber Erinnerungsberichte, von überlebenden Häftlingen, von Zeitzeugen, die den Zug damals beobachtet haben, aus wenigen Gerichtsakten sowie aus Erzählungen von Menschen, die damals den Häftlingszug als Kinder erlebt haben und die die Bilder von damals ein Leben lang mit sich trugen.

Östlich von Jena, in Großlöbichau, wurde eine Gruppe von 20 bis 30 Häftlingen, deren Fluchtversuch gescheitert war, auf Befehl Jenaer NS-Funktionäre im dortigen Steinbruch ermordet. Später, in der Gegend um Eisenberg,  erlebten viele Häftlinge ihre Befreiung. Aber viele andere wurden von ihren Bewachern noch tage- und wochenlang weitergeschleppt.

Die auf Initiative des „Arbeitskreises Sprechende Vergangenheit“ e.V. am 11. April 2023 eingeweihte Gedenkstele an der Karl-Liebknecht-Straße in Wenigenjena markiert zusammen mit der vor zwei Jahren errichteten Stele bei der Camsdorfer Brücke eine Gedenkspur durch den östlichen Teil der Stadt.  Der letzte Buchenwald-Todesmarsch ist das letzte große Verbrechen der NS-Terrorherrschaft in Jena und bleibt somit ein Stück Jenaer Stadtgeschichte und einer lebendigen Gedenkkultur.

Gedenken an Robert J. Büchler (1929-2009)

Robert Jehoshua Büchler
Robert Jehoshua Büchler (*1929 – †2009) ©Juliane Werner

Die neue Stele in Wenigenjena erinnert in besonderer Weise an Robert Jehoshua Büchler, der als 16-Jähriger unter den Häftlingen war, die an dieser Stelle vorbeigetrieben wurden. Robert Büchler, am 1. Januar 1929 in einer jüdischen Familie inTopoľčany/Slowakei geboren, wurde im September 1944 mit seiner gesamten Familie in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dort hat er seine Eltern und seine Schwester Ruth zum letzten Mal gesehen, die wie die meisten seiner vielen Angehörigen ermordet wurden. Im Januar 1945 wurden tausende Häftlinge aus Auschwitz nach Westen verbracht, viele in das KZ Buchenwald. Am 23. Januar kam Büchler in lebensbedrohlichem Zustand in Buchenwald an.

Im sogenannten „Kleinen Lager“ kämpfte er im „Kinderblock 66“ mit 900 anderen Kindern ums Überleben. Kurz vor der Befreiung des KZ musste er mit dem letzten Todesmarsch das Lager verlassen. Hinter Eisenberg glückte ihm die Flucht. US-Truppen brachten ihn nach Jena, in die am Sportplatz am Jenzig eingerichteten Krankenbaracken. Darüber sagte er später: In Jena bin ich zum zweiten Mal geboren.“

1948 ist er nach Israel ausgewandert und hat gemeinsam mit anderen Holocaust-Überlebenden den Kibbuz „Lehavot Haviva“ gegründet. Unter ihnen war auch Ester Herz, die seine Frau wurde. Im Kibbuz arbeitete er beim Häuserbau, als  Landwirt und Schreiner. Seit 1964 veröffentlichte Büchler Berichte über seine Zeit in den Lagern, organisierte Treffen mit Überlebenden in Israel, forschte zur jüdischen Geschichte der Slowakei und über den Buchenwalder „Kinderblock 66“. Nach seinem Geschichtsstudium arbeitete er im Moreshet Archive und war für die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem tätig. In den 80er Jahren nahm Büchler erste Kontakte zur Gedenkstätte Buchenwald auf, die er seit 1990 wiederholt besuchen konnte. Er unternahm Vortragsreisen als Zeitzeuge der NS-Verbrechen, er engagierte sich im „Public Committee of Auschwitz Survivors“, im Häftlingsbeirat der Buchenwald-Stiftung und im Internationalen Buchenwald-Komitee. Besonders wichtig war ihm sein Engagement in der Friedensbewegung „Peace Now“.

Die Thüringer Landesregierung hat ihm im April 2009 den „Verdienstorden des Freistaats Thüringen“ verliehen. Wenig später, am 14. August, ist er im Kreis seiner großen Familie gestorben.

Robert Büchler hat Jena mehrfach besucht, hat mit jungen Menschen gesprochen und viele in Jena mit seiner liebenswürdigen und menschenfreundlichen Art beeindruckt. Seine Botschaft war: „Ihr jungen Deutschen tragt keine Schuld, aber unsere Geschichte ist euer Erbe.“

Der Oberbürgermeister der Stadt Jena, Dr. Thomas Nitzsche, hat die Jenaer Bürgerschaft eingeladen, am 11. April 2023 um 17.00 Uhr an der feierlichen Einweihung der Gedenkstele nahe beim Angergymnasium in Wenigenjena teilzunehmen. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und Dora, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, sowie die Tochter Von Robert Büchler, Frau Ruth Buchler-Chanash, werden anwesend sein.  Anschließend wird Frau Buchler-Chanash in der Aula des Angergymnasiums über das Leben ihres Vaters erzählen und sich in das Goldene Buch der Stadt Jena eintragen. 

Wir danken Herrn Dr. Wolfgang Rug vom Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“, der das dunkle Kapitel des Todesmarsches durch Jena erforscht, sehr herzlich für diesen Gastbeitrag!

Nachtrag

Der MDR Rundfunk hat die Einweihung der Gedenk-Stele am 11.04.2023 und die Hintergründe filmisch sehr gut begleitet. Diesen Beitrag wollen wir denen, die nicht dabei sein konnten nicht vorenthalten.

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