Vor der Befreiung des KZ Buchenwalds am 11. April 1945 starben noch mindestens 250 Häftlinge
Spätestens seit dem 24. Februar dieses Jahres ist Krieg in Europa für uns alle wieder zu einer realen Bedrohung geworden, die uns umtreibt und fassungslos macht. Dabei ist es noch nicht mal ein Menschenleben her, dass allenthalben geschworen wurde „Nie wieder!“ Unser heutiger Gastbeitrag von Till Noack, Mitglied im Arbeitskreis Sprechende Vergangenheit, erinnert eindrücklich an die vielen Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, die kurz vor der Befreiung auf den sogenannten Todesmärschen noch ihr Leben lassen mussten.
„14 Unbekannte umgekommen am 11. April 1945 auf dem Evakuierungsmarsch aus dem KZ-Buchenwald“, so stand es auf dem Grabstein auf dem Ostfriedhof (Fotos: siehe unten). Das Grab bedeckt mit Efeu, die Einfassung bemoost und wackelig.
Wie – „umgekommen“?
Die sind nicht umgekommen, die wurden ermordet! „Unbekannt“, ja sie waren uns unbekannt und wir kennen ihre Namen nicht, aber können wir uns die individuellen Schicksale vorstellen hinter „Unbekannte“. Und „Evakuierungsmarsch“? Das waren Todesmärsche! Seit Jahrzehnten werden sie so genannt und wird nicht mehr der technisch anmutende Begriff „Evakuierungsmarsch“ verwendet.
Im Sommer 2020 suchten Mitglieder des Arbeitskreises Sprechende Vergangenheit, die sich seit Jahren um die Erinnerung an die Verbrechen des Todesmarsches am 11. April 1945 bemühen, das Grab auf dem Ostfriedhof auf und waren, nun wie soll man es richtig ausdrücken, sagen wir: unangenehm berührt. Sie fanden es unwürdig. Unwürdig den Opfern gegenüber, aber auch beschämend für eine Stadt wie Jena: Unistadt, liberal, bürgerschaftlich engagiert, sich gerade auch in der letzten Zeit allen rassistischen, antisemitischen und sonstigen rechtsextremen Tendenzen beherzt entgegenstellend.
Am 10. April 1945 – einen Tag vor der Befreiung durch die Amerikaner – machten sich die Wachmannschaften daran, das KZ Buchenwald zu räumen. Verzweifelt versuchte der NS-Staat noch in den letzten Tagen seines Bestehens, den Anschein von Kontrolle der Lage aufrecht zu erhalten. 4.500 Häftlinge wurden erst vom KZ zum Bahnhof Weimar getrieben. Der Zug sollte Richtung Osten gehen, auf der Flucht vor den US-Truppen, die aus dem Süden und Westen heranrückten). US-Kampfflugzeuge beschossen die Lok bei Großschwabhausen. Übernachtung auf der Wiese und am Morgen durch den Grund ins Mühltal und am Carl August vorbei durch Jena. An der Camsdorfer Brücke stockte der Zug. Manche Häftlinge hatten Angst, die Brücke würde während der Querung gesprengt. Hitlerjungen riefen den Wachmannschaften zu, sie sollten die Häftlinge ihnen überlassen, sie würden sie gleich erschießen.
Besonders viele Zeitzeugen-Berichte gibt es zu den Vorfällen in Jena-Ost. Zeitzeugen berichten von Morden am Denkmal für den Krieg 1870/71, am Spielplatz Schlippenstraße und an der Gembdenbachbrücke bei der Straßenbahnendhaltestelle in Jena-Ost. Besonders viele Zeitzeugen konnten sich an die grauenvollen Ereignis am heute noch bestehen Spielplatz an der Ecke K.-Liebknecht-Straße/Schlippenstraße, nur 800 Meter vom Ostfriedhof entfernt, erinnern:
Der Schriftsetzer Karl Stankiewicz aus Jena:
Ein Leidenszug, wie er nicht schlimm genug geschildert werden kann. Müde, erschöpft zogen die Menschen hier durch. Viele mit Lappen an den Füßen, bei manchen sah man die Fußgelenke darin, wie bei Kindern. Nachdem an der Grünen Tanne, am Denkmal und an der Trasse Häftlinge erschossen wurden, geschah dasselbe am Spielplatz. Drei Häftlinge setzen sich ans Schaufenster bei Bäcker Geist, genau an der Steintreppe, die zum Steingraben führt. Einer der Häftlinge versuchte mit allen Mitteln, die Sitzenden zum Weitermarschieren zu überreden. Es gelang ihm nicht. Er verabschiedete sich und rannte hinter dem Zug her. […] Die abschließende SS in Soldatenmänteln, gesund aussehend, sprach mit einem Häftling, der bei „Geist“ saß. Sie packten ihn an und führten ihn an den Spielplatz. Hier musste er über den Zaun sehen. Als er noch ein paar Schritte lief, bekam er einen Fußtritt, stürzte hin, mit dem Gesicht ins Gebüsch, bekam noch einen Tritt und blieb dann liegen. Dann gingen die beiden SS-Leute zu den anderen. Den einen der Häftlinge überredeten sie nach dem Spielplatz zu laufen: „Da kannst Du viel besser ausruhen.“ Er ging, während der zweite unfähig war zu laufen. Er wurde an den Armen gepackt und wie ein Stück Holz über die Straße geschleift. Es war ein furchtbarer Anblick. Der so Geschleifte musste durch den Zaun kriechen, ein paar Tritte sollten dem Erschöpften und vollkommen Ermatteten dieses Durchkriechen „erleichtern“. Alles sah so roh, so brutal aus, dass man den SS-Viechern alles zutrauen konnte. Die Lage der drei wurde noch mit den Füßen korrigiert, dann zog der eine die Pistole und schoss. Er sah, dass der eine Häftling nicht richtig getroffen war. […] Die drei Häftlinge blieben liegen und kein Mensch kümmerte sich in den nächsten Tagen um sie. Der Zug ging weiter.
Als all das passierte, am Nachmittag des 11. April, war Buchenwald schon befreit. Schätzungsweise 250 Menschen wurden während des Todesmarsches zwischen dem KZ Buchenwald und Eisenberg ermordet. Mindestens 16 in Jena. 14 von ihnen haben nun ihre letzte Ruhestätte auf dem Ostfriedhof bekommen. Und jetzt auch ein würdigeres Grab. Nun trägt der Stein diese Inschrift.
Am neugestalteten Grab werden der Oberbürgermeister der Stadt und die Ortsteil-Bürgermeisterin am 11. April um 11.30 Uhr einen Kranz niederlegen.