„Ein Leidenszug, wie er nicht schlimm genug geschildert werden kann“, so hat ein Jenaer Bürger, der es selbst vom Straßenrand aus gesehen hat, das Ereignis bezeichnet: Den letzten Todesmarsch von Häftlingen aus dem KZ Buchenwald, der in den Nachmittagsstunden des 11. April 1945 quer durch Jena getrieben wurde.
Es war dies das letzte große Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft in Jena – zwei Tage später war die Stadt durch US-Militär besetzt. Der Todesmarsch vom 11. April war ein Zug von über 4500 geschundene Menschen, bewacht von ca. 250 schwer bewaffneten SS-Männern mit Hundestaffeln, vermutlich auch verstärkt durch Jenaer Polizeikräfte und Volkssturmleute. Es war dies der letzte der sog. Todesmärsche, mit denen die Lagerverwaltung des KZ Buchenwald versuchte, das Lager noch vor der Einnahme durch US-Truppen zu evakuieren.
Am Sonntag, 5. September 2021, ab 11 Uhr wird durch den Jenaer Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche unweit der Camsdorfer Brücke in einer öffentlichen Veranstaltung eine Gedenkstele eingeweiht, gleichzeitig auch eine Gedenkbuche im Rahmen des Programms „1000 Buchen“.
Es erinnern in Jena ja bereits mehrere schwarze Metall-Tafeln an diesen Todesmarsch, nur: sie erklären und erzählen kaum etwas. Um dieses schreckliche Ereignis auch für die heutige Zeit zu erhellen, hat der Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ in den zurückliegenden Jahren viele Quellen erforscht und vor allem nach Zeitzeugen gesucht, die noch über das Geschehen berichten konnten. So fanden sich betagte Frauen und Männer, die als Kinder oder Jugendliche diesen schrecklichen Todesmarsch erlebt hatten und nun, nach weit mehr als einem halben Jahrhundert und oft zum ersten Mal davon erzählen konnten. Was sie gesehen und miterlebt haben, hat sie ein Leben lang begleitet.
Sichtlich heute noch erschüttert, berichtete der Schott-Arbeiter G.H.: „Die Menschen in Lumpen gekleidet, teilweise nur Lappen oder Holzpantinen an den Füßen, so schlurften sie über das Pflaster unserer Stadt. Alle fünf bis zehn Meter, rechts und links des Zuges, antreibende SS-Leute. Ständig ostwärts jagende, Staubwolken aufwirbelnde Autos der Wehrmacht steigerten die Qual der vor Hunger und Durst völlig entkräfteten Menschen ins Unermessliche. Jeder aber, der nicht weiter konnte, wurde rücksichtslos von der SS-Bewachungsmannschaft erschossen.“ Und Frau B. aus Erfurt erinnerte sich: „Mein Bruder zog mich aufgeregt die Schlippenstraße hinauf zu unserem Spielplatz. Dort oben zog eine endlose Kolonne Menschen die „Straße der SA“ (heute Karl-Liebknecht-Straße) vorbei, gehetzt von bewaffnetem deutschen Militär und kläffenden Hunden. Ich sah die sich mühsam voranschleppenden, erschöpften Menschen in gestreifter Einheitskleidung. Und dann sah ich das Entsetzliche: Gleich hinter der Spielplatzabgrenzung lagen drei dieser Menschen in ihrem Blut. Sie hatten sich wohl zum Ausruhen auf die Eisenstangen gesetzt und waren erschossen worden. Sie waren hinten über gefallen, lagen auf unserem Spielplatz.“
L.C. erinnerte sich auch an Versuche, den Leidenden zu helfen: „Ich sah den Elendszug kommen und stellte einen Eimer Wasser auf die Straße, aber sofort kamen Wachmänner und warfen den Eimer um und schlugen auf die Menschen, die trinken wollten. Ich bekam auch mit dem Gewehrkolben einen Schlag in den Magen“.
Solche und ähnliche Berichte zeigen das furchtbare Leid, das die Häftlinge bei ihrem Marsch quer durch Jena erfahren mussten – vom Mühltal kommend, durch den westlichen Stadtteil, über die Camsdorfer Brücke und hinter Jena-Ost wieder aus der Stadt hinaus. Und zwar genau an dem Tag und zu den gleichen Nachmittagsstunden, als das US-Militär das KZ Buchenwald besetzen und Tausende der dort noch verbliebenen Häftlinge befreien konnte.
Der Zug führte noch weit über Jena hinaus; es sind auf dem Weg schätzungsweise 250 Häftlinge getötet worden, nur wenige konnten fliehen. Rund um Eisenberg hat sich der größte Teil des Zuges aufgelöst, vom US-Militär überrollt; aber kleinere Kolonnen sind noch den ganzen April über weitergeschleppt worden, per Bahn oder zu Fuß, bis in die Oberpfalz, eine Gruppe sogar bis zum KZ Mauthausen in Österreich.
Die Informationsstele und die Gedenkbuche wollen für dieses furchtbare Kapitel unserer Stadtgeschichte ein sprechender Gedenkort sein. Der 11. April soll im Kalender des Gedächtnisses der Stadt Jena ein besonderes Datum sein.
Dr. Gisela Horn, bis 2015 Literaturwissenschaftlerin an der FSU Jena, hat vor 14 Jahren im Rahmen des Jenaer Aktionsnetzwerks gegen Rechtsextremismus den Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ gegründet (seit 2021 e.V.). Der Kreis von unterschiedlichen Menschen aus Jena, in dem auch Dr. Wolfgang Rug (bis 2005 Dozent an der Universität Tübingen in Baden-Württemberg) mitarbeitet, engagiert sich für die Erforschung und Erhellung der Jenaer Stadtgeschichte bes. in der Zeit der NS-Herrschaft.
Der Name des Arbeitskreises „Sprechende Vergangenheit“ steht für den Anspruch, das Wissen über die Zeit des NS in Jena zu vertiefen und lebendig zu halten und es durch öffentliche Informations- und Gedenk-Veranstaltungen auch an jüngere Bürgerinnen und Bürger weiterzugeben. Der Arbeitskreis will in Jena Zeichen der zivilgesellschaftlichen und der städtischen Verantwortung für dieses schwere Erbe der Stadtgeschichte setzen.
Wir danken Herrn Dr. Wolfgang Rug für diesen berührenden Gastbeitrag.