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Jenaer Lebenswege vor und nach der Wiedervereinigung

Schwarz-weiß-Fotografie aus DDR-Zeiten. Ein Mann steht mit einem Koffer stolz vor einem Schild mit "AUSREISE" und Pfeil

Zum Tag der Deutschen Einheit blickt Jenas Stadthistorikerin Dr. Jenny Price zurück auf die Situation von Menschen, die Jena in der DDR-Zeit verlassen wollten, und lädt zusammen mit Dr. Andreas Braune vom Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte und Katharina Kempken vom Thüringer Archiv für Zeitgeschichte zu einer besonderen Veranstaltung in der Ernst-Abbe-Bücherei Jena ein.

Heute jährt sich die Wiedervereinigung Deutschlands genau zum 35. Mal. Der starke Wunsch nach Reisefreiheit war damals einer der ausschlaggebenden Punkte für die politischen Entwicklungen, die zum Ende der DDR führten. Denn nicht nur die Demonstrationen im Herbst 1989 haben eine Rolle gespielt, sondern auch die sogenannte „Abstimmung mit den Füßen“. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 sollte die Ausreisewelle von Ost nach West ein schnelles Ende nehmen. Doch auch nach 1990 verließen immer mehr Menschen den Osten für einen Neuanfang im Westen Deutschlands. Welche Erfahrungen Menschen in Jena mit der Ausreise aus der DDR gemacht haben und warum einige inzwischen in den Osten zurückgekehrt sind, ist nicht nur Thema dieses Blogbeitrags, sondern auch einer bevorstehenden Veranstaltung.

Nichts wie weg?

Nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961 gab es kaum noch Möglichkeiten, die DDR auf legalem Wege zu verlassen.  Einige versuchten, illegal die Grenze zu überqueren, andere entschieden sich nach einem genehmigten Besuch im Westen dafür, im Ausland zu bleiben, aber die Mehrheit beantragte offiziell die ständige Ausreise aus der DDR. Diese Option war eigentlich nur für Familienzusammenführungen, Rentner:innen und Invaliden bestimmt, doch ab Mitte der 1970er Jahre beantragten auch andere über diesen Weg die ständige Ausreise. Verstärkt durch das Helsinki-Abkommen von 1975 und der damit zusammenhängenden Zustimmung der Staats- und Parteiführung der DDR, Menschen- und Bürgerrechte – und damit auch das Recht auf Freizügigkeit – in der DDR einzuhalten, stieg die Zahl der Anträge so stark an, dass 1984 ungewöhnlich viele davon genehmigt wurden – obwohl das Ministerium für Staatssicherheit 1977 laut geheimer Anweisung vom Ministerrat die als rechtswidrig eingeordneten Übersiedlungsersuchen zurückweisen, unterbinden und bekämpfen sollte. Anstatt die Situation wie beabsichtigt zu verbessern, stieg die Zahl der neuen Anträge bis zum Ende des Jahrzehnts auf über 100.000 Ausreisewillige an.

Jeder Versuch, die DDR zu verlassen, war mit erheblichen Risiken und Konsequenzen verbunden. Diejenigen, die ausreisen wollten, wurden oft intensiv vom Staat überwacht und diskriminierenden Maßnahmen wie beruflicher Degradierung oder Kündigung sowie dem Entzug des Personalausweises und der Übergabe eines „PM12“ ausgesetzt, der normalerweise an Haftentlassene ausgegeben wurde und die Inhaber:innen kriminalisierte. Darüber hinaus nahmen Ausreiseantragssteller:innen teils selbst schlechter bezahlte Arbeitsplätze an oder kündigten, um die gesellschaftliche Kontrolle zu verringern. Diejenigen, die das Land verließen, taten dies unter hohem Druck in dem Bewusstsein, dass dies höchstwahrscheinlich soziale und berufliche Auswirkungen auf ihre Angehörigen haben würde. Dies war auch einer der häufigsten Gründe, warum andere beschlossen, in der DDR zu bleiben. Die Mehrheit der Antragssteller:innen waren nicht kritische Intellektuelle oder Kreative, Priester oder Hochqualifizierte, sondern eher Arbeiter:innen, Schlüsselkräfte oder Selbstständige.

Schwarz-weiß-Fotografie aus DDR-Zeiten. Ein Mann steht mit einem Koffer stolz vor einem Schild mit "AUSREISE" und Pfeil
Ost-Berlin, 20.05.1982
Der Jenaer Bürgerrechtler Peter Rösch am Tag seiner Ausreise in Berlin vor dem Tränenpalast © Robert Havermann Archiv, Bernd Albrecht

Doch der Antrag auf ständige Ausreise war keinesfalls ein leichter oder schneller Weg in den Westen. Viele Antragssteller:innen mussten mehrere Jahre lang auf eine Entscheidung warten, und wurden dann vielleicht noch abgelehnt. In den 1980ern unternahmen Menschen in Thüringen und anderen DDR-Bezirken öffentliche Protestaktionen, zum Beispiel indem sie den Dom in Erfurt oder Kirchen in Weimar besetzten, um Druck auf die Behörden auszuüben und ihre Ausreise zu erzwingen – mit Erfolg!

„Tauscht uns doch aus!“

Auch in Jena fand ab Juni 1983 ein öffentlicher Protest für das Recht auf freie Wahl des Wohnortes statt. Zunächst etwa 30 Personen in weißer Kleidung versammelten sich ab dem 18. Juni wöchentlich samstags um 9 Uhr auf dem Platz der Kosmonauten – dem heutigen Eichplatz – schweigend in einem Kreis.  Als die Polizei sie nach einigen Wochen anwies, die Zusammenkunft aufzulösen, übergaben sie ihre Ausreisebegehren. Ein Bericht in der Tagesschau wenige Tage später führte dazu, dass beim nächsten Treffen schon 180 Personen aus der ganzen Republik an dem „Weißen Kreis“ teilnahmen. Wenige Zeit später konnten etwa 70 Personen aus Jena ihre Ausreise bewirken. Als sehr frühe öffentliche Aktion, hatte der Protest in Jena eine symbolhafte Wirkung und weiße Kleidung, Fahnen und Wimpel wurden zum Symbol der Ausreisebewegung in der DDR.

Wie reagierte die Stadt Jena auf diese Aktionen und die steigende Zahl von Ausreiseanträgen?

Ein Blick in die städtischen Akten zeigt, dass Mitte der 80er Jahre eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, „zur Zurückdrängung von Ersuchen auf Übersiedlung“. Die Gruppe wurde vom Oberbürgermeister der Stadt Jena geleitet und bezog unter anderem auch die Leiter der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit sowie der Schwerpunktbetriebe mit ein. Ihr Ziel war es, Neuanträge zu verhindern und auf Antragsteller:innen Einfluss zu nehmen. So wurde jedem oder jeder Antragssteller:in ein „Betreuer“ zugewiesen, der zu dieser Person berichten musste und versuchen sollte, sie zur Rücknahme ihres Antrags zu bewegen. Selbst die Kinder von Antragssteller:innen wurden laut Berichten in den Schulen vor allem von ihren Klassenlehrer:innen systematisch unter Druck gesetzt.

In der Arbeitsgruppe wurden monatlich verschiedene Bereiche eingeladen, von ihren Erfahrungen zu berichten und Methoden auszutauschen. In den Betrieben versuchte man durch Gespräche im Arbeitskollektiv auf Antragssteller:innen Einfluss zu nehmen, weil sie dort „nicht ausweichen“ können. Diese weigerten sich allerdings, ihren Antrag auf Arbeit zu besprechen, weil die Diskussionen nicht sachlich blieben. Genehmigter Urlaub wurde spontan gestrichen und manche Antragssteller:innen wurden in andere Bereiche umgesetzt. Letztendlich hörten einige auf zu arbeiten, um diesem Druck zu entgehen. Mehrfach wurde berichtet, dass die Schilderung der Konsequenzen einer Ausreise, „und die persönliche bzw. familiäre Entwicklung“, also was das für ihre engsten Verwandten heißen würde, zu einer Rücknahme führte.

Doch die städtischen Strukturen rund um den Ausreiseantrag wurden von Antragsteller:innen als Möglichkeit gesehen, auf die Entscheidung einzuwirken. So besuchten wöchentlich über 100 Personen in Jena den Sprechtag der Abteilung Innere Angelegenheiten, um auf ihren Antrag hinzuweisen und nach der Bearbeitungsdauer zu fragen. In diesen Gesprächen wurden die Motive der Menschen aus Jena gesammelt. Hierzu gehörten an erster Stelle die eingeschränkten Reisemöglichkeiten, aber auch das ungenügende Warenangebot, die Wartedauer auf ein PKW, die Ablehnung der sozialistischen Gesellschaft sowie das Fehlen von Meinungsfreiheit. Ein Bericht im Neuen Deutschland am 6. März 1985 zu „Rückkehrende“, die aus der Bundesrepublik wieder in die DDR übergesiedelt waren, sollte in den Gesprächen als Agitation eingesetzt werden, gänzlich ohne Erfolg. So konterten die Antragssteller:innen in Jena: „Tauscht uns doch aus!“ oder boten ihre Wohnungen für Rückkehrer:innen an. Ende 1986 wurde berichtet: „Im allgemeinen wird der Sprechtag benutzt, um Hartnäckigkeit und Unwiderrufbarkeit des Ersuchens zu demonstrieren.“

Insgesamt zeigt sich, dass in Jena ein enormer Aufwand unternommen wurde, um Ausreisen zu verhindern. Die Zahl der Anträge in Jena stieg jedoch trotz der vielen geschaffenen Strukturen und Personeneinsätze weiter, und nur wenige nahmen ihre Anträge zurück. Anfang 1987 waren innerhalb von nur zwei Monaten schon 178 Neuanträge eingegangen, sodass nun 1.665 Menschen in Jena auf eine Entscheidung ihres Ausreiseantrages warteten. Der Beratungsstab gab zu: „Die Ergebnisse der Rückdrängung entsprechen nicht dem Aufwand“. Doch welche Konsequenzen hatte diese unnütze Initiative und wie war die Erfahrung derjenigen, die davon betroffen waren?

Buchcover von "Wir dulkden noch viel zu viel" in Lila mit gelber Schrift
Monika Lembkes Veröffentlichung zum Weißen Kreis in Jena erschien 2024 im Paramon Verlag © Paramon, JenaKultur

Weggehen – Ankommen – Zurückkehren?

Zwei Personen, die davon erzählen können, sind Monika Lembke und Norbert Weinz. Monika Lembke beantragte mit ihrem Mann 1982 die Ausreise, die nur unter dramatischen Bedingungen bewilligt wurde. Davon und von ihrem Engagement im Jenaer Weißen Kreis berichtet sie in ihrem Buch »Wir dulden noch viel zu viel. Der Weiße Kreis – Ein stiller Protest, der in die Freiheit führte« (2024). Heute lebt Monika Lembke in Leipzig. Norbert Weinz stellte dahingegen schon 1976 einen Ausreiseantrag in Jena. Nach mehrfacher Ablehnung floh er aus der DDR. Danach verschlug es ihn sogar bis New Orleans, doch heute lebt er wieder in der Nähe von Jena.

Beide werden in wenigen Wochen in Jena von ihren Erfahrungen erzählen, sowohl vor wie auch nach 1989. Im Rahmen des Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte und in Zusammenarbeit von JenaKultur mit dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ findet die Veranstaltung „Weggehen – Ankommen – Zurückkehren? Jenaer Lebenswege vor und nach 1989“ am 25. Oktober ab 17:15 Uhr im Salon der Ernst-Abbe-Bücherei Jena statt. Dort rücken wir mit sehr persönlichen Zugängen die oft dramatischen Bedingungen deutsch-deutscher Migration vor und nach 1989 ins Zentrum.

Wir laden ein zum Gespräch mit Ausgereisten und Zurückgekehrten über die deutsch-deutsche Migration vor und nach 1989. Was brachte Menschen dazu, Jena hinter sich zu lassen? Wo fühlten sie sich heimisch, wann fühlten sie sich fremd? Was zog sie zurück? 36 Jahre nach der Grenzöffnung erzählen Menschen von ihrem Weggang aus der DDR, von langen Jahren des Wartens auf und dem zermürbenden Kampf um eine Ausreisegenehmigung, vom Ankommen im Westen und der oft schwierigen Suche nach einer neuen Heimat dort. Und auch von der Rückkehr nach Jena oder Thüringen, zu der sich viele entschieden.

Blick in den Lesesalon der EAB Jena, viele verschiedene bequeme Sitzmöbel warten auf Besucher:innen, Sessel, Stühle, Sofas
Im Erzählcafé im Salon der Ernst-Abbe-Bücherei in Jena sind alle eingeladen, eigene Erfahrungen zu teilen oder anderen Lebensgeschichten zu lauschen. © JenaKultur, C. Worsch

Neben den Zeitzeug:innen ist auch Christian Hermann zu Gast in Jena. Er arbeitet und forscht an der Universität Erfurt und der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt, ist dem ThürAZ eng verbunden und ordnet das Thema ‚Ausreise aus der DDR‘ historisch ein. Moderiert wird das Gespräch von Dr. Jenny Price (Stadthistorikerin Jena, JenaKultur), Katharina Kempken (ThürAZ) und Dr. Andreas Braune (wissenschaftlicher Leiter des Festivals). Im Anschluss an das Podium gibt es die Möglichkeit, in kleiner Runde eigene Geschichten oder Erinnerungen aus der Familie und dem Freundeskreis zu erzählen und zu teilen – oder einfach weiter zuzuhören.

„Fremde (und) Heimat“?

Seit 2009 verwandelt das Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte die Klassikerstadt in einen Ort lebendiger Geschichts- und Debattenkultur. Historiker:innen, Autor:innen, Journalist:innen und Zeitzeug:innen kommen hier mit einem neugierigen Publikum zusammen, um Vergangenheit und Gegenwart neu zu beleuchten. Mit einer Vielzahl an Formaten lädt das Festival seine Gäste zum Zuhören und Mitdiskutieren ein; nicht nur in Weimar, sondern auch im Vorfeld in Erfurt, Suhl, Gera und Jena.

2025 steht das Festival unter dem Motto „Fremde (und) Heimat“. Es geht um Zugehörigkeit und Entwurzelung, um Aufbruch und Ankunft, um die Frage, was Heimat für jeden Einzelnen bedeutet – und wie sie sich im Laufe des Lebens verändert. Denn Migration treibt die Menschen nicht erst seit kurzem um – wortwörtlich! – sondern schon immer.

Historische Beispiele von Migration und Flucht werden mit aktuellen Debatten verknüpft, wissenschaftliche Perspektiven mit persönlichen Geschichten. Das Festival schlägt so Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und gibt zugleich Raum für gemeinsame Reflexion, Streitgespräch und etwas mehr Empathie in oft hitzigen Debatten. Immer wieder ein Schwerpunkt: Migrationsgeschichte im deutsch-deutschen Fokus, etwa wenn das Ankommen im ‚Westen‘ in einem weiteren Erzählformat besprochen wird, die Folgen der Verdrängung von Flucht und Vertreibung in der DDR thematisiert werden oder die Kinder der vietnamesischen Migration nach Ost- und Westdeutschland zu Wort kommen.

Einladung

25. Oktober 2025, 17:15 Uhr – Podium und Erzählcafé „Weggehen – Ankommen – Zurückkehren? Jenaer Lebenswege vor und nach 1989“ in der Ernst-Abbe-Bücherei Jena (kostenlos & barrierefrei)

31. Oktober bis 2. November 2025 – Festivalwochenende in Weimar, Jugend- und Kulturzentrum mon ami und weitere Orte

Alle Veranstaltungen sind kostenfrei. Das vollständige Programm des Festivals finden Sie hier:

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