Allgemein Jenaer Philharmonie JenaKultur (übergreifend) Stadtgeschichtsforschung

„Im Takt der neuen Zeit“: vier Wegbereiter des Sinfonieorchesters der Stadt Jena 1933/34

Historische Fotografie von 1934 von Musikern in Frack und Fliege auf der Bühne

Zum Abschluss des Jubiläumsjahres „90 Jahre Jenaer Philharmonie“ folgte der ehemalige Stadthistoriker Dr. Rüdiger Stutz gemeinsam mit Prof. Gert-Eberhard Kühne der Einladung zum Philharmonischen Salon am 13. November 2024, um über den Dirigenten Ernst Schwassmann, der das Städtische Sinfonieorchester von 1933 bis 1945 leitete, zu sprechen.
Für unseren Blog hat er die Entstehungsgeschichte der Jenaer Philharmonie noch einmal unter die Lupe genommen:

Jenas Ruf als Musikstadt beruhte zunächst auf den Akademischen Konzerten, deren Auftakt bereits am 13. Januar 1770 im Festraum des Rosengebäudes erfolgte. Ab 1787 fand diese Veranstaltungsreihe in den Rosensälen am Fürstengraben eine bleibende Heimstatt. Die Geschichte Jenas als Musik- und Konzertstadt ziehe sich wie „eine klare Linie durch die Jahrhunderte“, stellte Universitätsmusikdirektor Rudolf Volkmann 1938 fest. Sie würde in der Bachzeit einsetzen, durch die Mannheimer Schule um Carl Philipp Stamitz ihre Fortsetzung finden und über die Wiener Klassik bis in die Neuzeit führen. [1] Im 20. Jahrhundert schrieben die Aufführungen im großen Saal des Volkshauses Jena ein weiteres Kapitel Jenaer Musikgeschichte, „einem der besten Konzertsäle Thüringens“ mit einer „hervorragenden Akustik für Kammermusik und große Besetzungen gleichermaßen.“ [2] Vor dem Ersten Weltkrieg gastierten bzw. konzertierten hier Orchester der Hoftheater aus den Residenzstädten Weimar, Meiningen und Rudolstadt sowie verschiedene Klangkörper des Gewandhauses Leipzig und nicht zuletzt der mit Jena eng verbundene Komponist, Dirigent und Musiklehrer Max Reger. Letzterer soll schon zu dieser Zeit seinem Schwiegervater, dem Jenaer Oberbürgermeister Theodor Fuchs, empfohlen haben, ein städtisches Orchester zu gründen. [3] In der Weimarer Republik bildeten die Gastspiele der „Dresdner Staatsoper“ und der Berliner Philharmoniker Glanzpunkte im Musikleben der Stadt. Überlokal wahrgenommen wurde insbesondere die Aufführung „Ein deutschen Requiem“ von Johannes Brahms durch das Philharmonische Orchester Berlin unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers. Im Rahmen des VII. Brahmsfestes standen Ende Mai/Anfang Juni 1929 sechs Konzerte auf dem Programm, die sich eines regen Zuspruchs erfreuten. Noch zwei Jahre später schwärmte ein Journalist in der Weimarischen Zeitung, namentlich das „Deutsche Requiem“ und die Symphonien 2 und 4 hätten beim Publikum einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Überschwänglich lobte der Kritiker die vom „tatkräftigen und tiefgründigen Universitätsmusikdirektor Professor Rudolf Volkmann geleiteten Jenaer Musikfeste“, die sich „zu einem ständigen Faktor des deutschen Musiklebens“ entwickeln würden. [4] Anlässlich der Konzertfolge war auf der Bühne des Volkshauses Jena ein riesiges Podium für ca. 600 Mitwirkende errichtet worden. Der gemischte Festchor setzte sich aus sieben Jenaer Chören zusammen. Dennoch habe es der Chorleiter verstanden, aus ihnen „ein begeistertes, biegsames und elastisches Ensemble“ zu formen, wie ein anderer Rezensent Volkmanns Leistung würdigte. Auf dem anschließenden Abendempfang betonte Jenas Oberbürgermeister Alexander Elsner, die von der Romantik umwobene Stadt habe als eine der ersten das Deutsche Requiem in den Akademischen Konzerten aufgeführt. Deshalb bestünde in Jena „ein nicht ungerechtfertigtes Interesse an Brahmscher Kunstpflege.“ [5]

Allerdings verfügte die Akademische Konzertkommission nach wie vor über kein eigenes Orchester. Sie war daher über Jahrzehnte gezwungen, auswärtige Ensemble bzw. Gastorchester zu verpflichten. Volkmann stand daher immer aufs Neue vor der Herausforderung, eine einheitliche Darbietung zu gewährleisten, auch wenn durch die jahrelange Zusammenarbeit mit den Kapellen am Deutschen Nationaltheater ein hohes Maß an Abstimmung zwischen den Jenaer Chören und dem jeweiligen Gastdirigent vorausgesetzt werden konnte. Durch die unumgängliche Praxis, Orchester von außerhalb zu engagieren, verteuerten sich zudem die Konzertkarten erheblich. Demzufolge wurden unter einigen Chorleitern zu Beginn der 1930er Jahre die Stimmen immer lauter, die für die Bildung eines eigenständigen Klangkörpers der Stadt eintraten. Prof. Volkmann habe allerdings „Bedenken“ gegen solche Überlegungen angemeldet, wie Gert-Eberhard Kühne in seiner berufsbiografischen Darstellung über den Kapellmeister Ernst Schwassmann ausführt, der das Jenaer Sinfonieorchester zwischen 1934 und 1945 leitete. [6] In dieser Auseinandersetzung vertrat die lokale NS-Führung die Auffassung, das neue Orchester müsse eine „bodenständige Künstlergemeinschaft“ repräsentieren, um „die kostbaren Schätze der deutschen Musik in die gesamte Jenaer Bevölkerung“ tragen zu können. [7] Solche völkisch gefärbten Einlassungen wiesen eine Spitze gegen die musikalische Traditionspflege an der Universität auf, die nur auf einen elitären Kreis von Musikbegeisterten gezielt habe und keineswegs auf alle Volkskreise.

Programmzettel eines Wagner-Abends des Städtischen Sinfonieorchesters von 29.11.1934
Archiv der Jenaer Philharmonie: „Wagner-Abend“ im Volkshaus Jena – Programm vom 29.11.1934.

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verband sich der alte Traum von einem städtischen Orchester daher mit der Forderung nach einem vollständigen „Neubau des Jenaer Musiklebens“. Dementsprechend hob das Städtische Kulturamt in einer 1937 veröffentlichten Selbstdarstellung hervor, die Stadt Jena habe der „Musikpflege“ seit 1933 einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt. Vor allem Armin Schmidt, Jenas Oberbürgermeister und NSDAP-Kreisleiter, setzte demnach in der lokalen Kulturpolitik von Anfang an auf diese Karte. Der nationalsozialistisch dominierte Stadtrat hatte Schmidt bereits am 29. Mai 1933 kommissarisch zum Stadtoberhaupt ausgerufen, nachdem wenige Tage zuvor Angehörige der SA und der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation das Amtszimmer des Oberbürgermeisters Elsner besetzt hatten. Sie inszenierten eine aufgebrachte Volksmenge und trugen zur Täuschung der Öffentlichkeit keine Uniformen. Der braune Mob gab vor, gegen Amtsmissbrauch und Misswirtschaft im Städtischen Brauereiwesen zu protestieren. [8] In der erwähnten Publikation des Städtischen Kulturamtes aus dem Jahre 1937 gab der promovierte Jurist und Musikrezensent Arno Eisenhuth auch einen Rückblick auf die kommunale Musikpolitik seit der NS-Machtübernahme. In diesem Beitrag legte Eisenhuth dar, die Gründung des Städtischen Sinfonieorchesters zum 1. November 1934 sei „im engsten Zusammenwirken mit der Reichsmusikkammer“ in Berlin erfolgt. Vor allem der Konzertgeiger Gustav Havemann habe den Jenaer Oberbürgermeister und das Städtische Kulturamt bei der Formierung des neuen Ensembles „tatkräftig unterstützt“. Immerhin war Havemann zu dieser Zeit in der Funktionärshierarchie der Reichsmusikkammer zum Reichsfachamtsleiter aufgerückt. [9] Was wissen wir über den rasanten musikpolitischen Aufstieg dieses auch im Ausland geschätzten Geigenvirtuosen und Dirigenten, der an der Berliner Hochschule für Musik bis 1945 einen Lehrauftrag wahrnahm?

Die zeitgeschichtliche Forschung zeichnet ein überaus wendungsreiches Lebensbild von Prof. Havemann. [10] In den ersten Jahren der Weimarer Republik sympathisierte er noch mit den bildungspolitischen und musikpädagogischen Reformideen des Kulturpolitikers Leo Kestenberg; im April 1932 trat Havemann indes der NSDAP bei. Im gleichen Jahr initiierte er in Berlin die Bildung eines sog. Kampfbund-Orchesters, das aus stellungslosen Musikern bestand und auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise für ein paar Groschen vor Arbeitslosen auftrat. Die zeitgenössische Selbstbezeichnung des Orchesters bezog sich auf den 1928 gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur, der mittels solcher populistischen Aktionen Geistes-, Kunst- und Kulturschaffende für die Nazipartei zu gewinnen suchte. Im Verlauf des Jahres 1933 wurde das Kampfbund-Orchester der NSDAP-Gauleitung Berlin unterstellt. Dadurch geriet es noch stärker in den Dunstkreis der kulturpolitischen Ambitionen des Gauleiters Joseph Goebbels, der am 13. März 1933 zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ernannt wurde. [11] Im Verlauf des Jahres 1932 hatte Havemann diesen führenden Nazipolitiker näher kennengelernt, weil Goebbels mitunter den Auftritten des Kampfbund-Orchesters beiwohnte. Sie trafen sich nun häufiger am Rande von Konzerten oder auf abendlichen Empfängen der extrem nationalistischen Künstlerszene Berlins. Vor einem solchen Kreis führte Havemann am 5. Dezember 1932 in der Dienstwohnung von Goebbels Stücke von Johann Sebastian Bach auf. Unter den etwa 40 Gästen befanden sich auch der spätere Reichskanzler Hitler und Hermann Göring. [12]

Zwischen Februar und April 1933 störten Mitglieder des Kampfbundes für deutsche Kultur in der Reichshauptstadt und weiteren größeren Städten Veranstaltungen mit jüdischen Musiker:innen, provozierten tumultartige Auseinandersetzungen und riefen zum Boykott namhafter Künstler:innen auf, um sie aus dem Musikleben zu verdrängen. Schon ein Jahr zuvor hatte Havemann im Namen des Kampfbundes vom Vorstand der Philharmonischen Gesellschaft Hamburg das Zugeständnis erpresst, die bereits für ein Brahms-Konzert vertraglich gebundenen jüdischen Sänger:innen und Instrumentalmusiker wieder auszuladen. [13] In seiner Funktion als Fachgruppenleiter Musik richtete er 1933 ein Schreiben des Kampfbundes an das Berliner Philharmonische Orchester, in dem Havemann die Ausgrenzung aller jüdischen Musiker:innen und insbesondere die Entlassung von Furtwänglers Privatsekretärin Dr. Berta Geißmar forderte. Der prominente Dirigent, Komponist und Orchesterleiter sah sich veranlasst, einen offenen Brief an Goebbels zu verfassen, den einige ausländische Zeitungen auf ihren Titelseiten veröffentlichten. In diesem Dokument stellte Furtwängler die antijüdische Ausgrenzungspraxis der NS-Musikpolitik in der Formulierung bedachtsam, aber unmissverständlich in Frage. [14]

Im Juli 1933 richtete der Kampfbund für deutsche Kultur in Greifswald sein erstes Musikfest aus. Havemann dirigierte das Orchester, alle Musiker trugen demonstrativ die Uniform der SA. Es erklangen Stücke von Brahms und Reger, dessen Sinfonie „Eine vaterländische Ouvertüre“ nach dem 30. Januar wieder häufiger aufgeführt wurde, nachdem das im September 1914 entstandene Stück in der Weimarer Republik in Vergessenheit geraten war. [15] Das Werk gehörte zum festen Repertoire der Orchester bzw. Kammermusikensemble des Kampfbundes, die in Großstädten wie Halle/Saale, Chemnitz und Wien entstanden waren. Nach der Machtübernahme 1933 wurden diese neuen Klangkörper aus öffentlichen Mitteln oder durch NS-nahe Künstlervereinigungen finanziert. [16] Darüber hinaus ging aus dem Kern der Fachgruppe Musik des einflussreichen Berliner Kampfbundes nach mehreren Zwischenschritten und verwickelten Umorganisationen die Reichsmusikkammer hervor. [17] Sie unterstand neben sechs weiteren Künstlerkammern der Reichskulturkammer, die Goebbels am 15. November 1933 eröffnete. Als Präsident der Reichsmusikkammer wirkte bis Mitte 1935 der Dirigent und Komponist Richard Strauss, als sein Stellvertreter Furtwängler, der sich aber schon Ende 1934 zum Rücktritt gezwungen sah. Zu diesem Zeitpunkt gehörten der Reichsmusikkammer ca. 170.000 Mitglieder an, darunter bis zum Erlass der Nürnberger Rassengesetze im Jahre 1935 noch 1.024 jüdische Musiker:innen. [18]

De jure stellten diese berufsständischen Kammern zwar Körperschaften des öffentlichen Rechts dar, de facto jedoch Zwangsorganisationen. Laut Reichsgesetz erfasste die Reichsmusikkammer alle Berufsmusiker:innen und musikalischen Laienkreise, die irgendwie am Vertrieb oder der Aufführung von Musik beteiligt waren. Sie glich einem bürokratischen „Monster“, dem 1933/34 neben der Zentralverwaltung neun Fachverbände und zwei Außenämter zugeordnet wurden. Havemann leitete bis zu seiner Abberufung [19] im Sommer 1935 den Fachverband B, die „Reichsmusikerschaft“. Allein diese Institution umfasste sechs Reichsfachschaften, vierzehn Landesmusiker- und ca. 500 Ortmusikerschaften. Diesen Unterorganisationen mussten alle Orchester- und Ensemblemusiker:innen, Musikerzieher:innen, Kapellmeister, Solist:innen und Kirchenmusiker beitreten; die Mitgliedschaft war beitragspflichtig. [20] Vordem hatten sich alle Musikschaffenden einer bürokratischen Überprüfung durch die Reichsmusikkammer zu unterziehen, von der die Ausstellung einer sog. Lizenzkarte abhing. Ohne deren Vorlage durften Musiker und Sänger:innen fortan nicht mehr auftreten. Die Verwaltung der Kammer versandte entsprechende Fragebögen, auf denen „arisch“ oder „nichtarisch“ zur Frage nach der „Abstammung“ angegeben werden musste. [21] Vor diesem Hintergrund verfügte Havemann über eine Schlüsselstellung in der Personalpolitik der Reichsmusikkammer. An der Berliner Hochschule für Musik bediente er sich nachweisbar solcher rassistischen Auswahlkriterien bei der Besetzung neuer Stellen, während Musiker und Dozenten von ihm entlassen wurden, die als „jüdisch“ oder „kulturbolschewistisch“ denunziert worden waren. Daneben nahm Havemann auch auf die fachliche und instrumentale Ausstattung der Orchester Einfluss. Im Falle Jenas behielt er sich ausdrücklich vor, die „herausragendsten“ Streicher unter den zahlreichen Bewerbern für das neue Städtische Sinfonieorchester auszuwählen. [22]

Blick durch die Flügeltüren in den großes Saal des Volkshauses Jena: Publikum, Jenaer Philharmonie auf der Bühne, die Orgel darüber wird in den Ukrainischen Nationalfarben angestrahlt
JenaKultur, C. Worsch: Die Jenaer Philharmonie 2022 bei einem Benefizkonzert für die Ukraine.

Obendrein gelang es Havemann dank seines politischen Netzwerks, zumindest einen Teil der für die Einrichtung des Städtischen Sinfonieorchesters Jena benötigten Finanzmittel aufzubringen, dem anfangs 28 und 1937 bereits 37 Berufsmusiker angehörten. Verfolgen wir die Spur des Geldes, zeigt ein Blick in den Haushaltsplan der Stadt Jena für das Rechnungsjahr 1934, [23] dass im Jahr 1933 weder Haushaltsmittel für einen neuen Klangkörper eingeplant worden waren noch im Verlauf des Folgejahres dafür ausgegeben wurden. Der Haushaltstitel „Städtisches Orchester“ findet sich erstmals im „Voranschlag“ für den Haushalt im Jahre 1935, bezeichnenderweise unter der Rubrik 5. „Volksbildung“. [24] Es waren Gesamtausgaben in Höhe von 56.120 Reichsmark vorgesehen, abzüglich der geplanten Einnahmen verblieb ein erforderlicher Zuschuss in Höhe von 39.160 RM, um alle Ausgaben zu decken. Zum Vergleich und zur besseren Einordnung dieser Haushaltslücke: Der ausgewiesene Etat für das Stadtmuseum Jena sah Gesamtausgaben in Höhe von 12.940 RM und einen Zuschuss von 12.190 RM vor. Einen Fingerzeig auf die Unterstützung des Orchesters durch Dritte gibt uns die Übersicht „Einnahmen“, in der Zuschüsse durch die „Reichsmusikerschaft“ in Höhe von 4.800 RM für das Haushaltsjahr 1935 ausgewiesen werden. [25] Vermutlich verfügte die von Havemann geleitete Körperschaft noch über ganz andere Kanäle, um den Aufbau des Jenaer Sinfonieorchesters finanziell abzusichern. Denn laut Voranschlag sollten vom Orchester im Haushaltsjahr 1935 allein 12.160 RM aus Eintrittsgeldern generiert werden, was sehr ambitioniert erscheint. Das Jenaer Stadtmuseum veranschlagte lediglich 500 RM aus Eintrittsgeldern aufzubringen. [26]

Allerdings zog sich der organisatorische Ausbau der „Reichsmusikerschaft“ über das ganze Jahr 1934 hin, besonders auf der Orts- bzw. Kreisebene. Georg Koell, ein Musiklehrer aus Winzerla und Komponist von Kammer- und Kirchenmusik, wurde zwar am 22. Januar 1934 zum Leiter der Ortsmusikerschaft des Fachverbandes B in der Reichsmusikkammer ernannt. Seine Aufgabe bestünde darin, die Unterorganisation der „Reichsmusikerschaft“ in den Kreisen Jena und Stadtroda aufzubauen, wie er dem Thüringischen Ministerium für Volksbildung am 20. August 1934 mitteilte. Doch die für den gesamten mitteldeutschen Raum zuständige Geschäftsstelle der Landesmusikerschaft in Halle/Saale konnte ihm erst Ende August 1934 einen Etat für seine laufenden Ausgaben in Aussicht stellen. [27] Koell gehörte seit dem 1. April 1933 der NSDAP an [28] und agierte zwischen 1934 und 1936 außerdem als Städtischer Musikbeauftragter in Jena. Dabei handelte es sich um ein kommunales Ehrenamt, das für die Abstimmung und Zusammenstellung der Konzertpläne von zunehmender Bedeutung war. [29] Wahrscheinlich mit Blick auf die 700-Jahr-Feier der Stadt übernahm der Jenaer Oberbürgermeister Schmidt 1936 diese Aufgabe. Als ein weiterer Förderer und Garant der nachhaltigen Bezuschussung des Städtischen Sinfonieorchesters darf der Hochschullehrer, Musikpädagoge und Dirigent Felix Oberborbeck gelten. Denn er stand der „Reichsmusikerschaft“ Havemanns im NSDAP-Gau Großthüringen seit Herbst 1934 als Musikberater zur Seite. [30] Hauptberuflich wirkte Oberborbeck als Direktor an der Staatlichen Hochschule für Musik in Weimar. Zugleich fungierte er seit dem 10. April 1934 als Musikreferent im Thüringischen Ministerium für Volksbildung. Ähnlich Havemann operierte Oberborbeck wie ein „Taktgeber“ in der Kultur- und Musikpolitik des frühen NS-Regimes. [31]   

Wir danken Rüdiger Stutz für seine wie immer gut recherchierten und kritischen Ausführungen!
Wussten Sie, liebe Leser:innen, unter welchen Bedingungen und Einflüssen die Jenaer Philharmonie gegründet wurde? Teilen Sie Ihre Gedanken mit uns in den Kommentaren!

[1] Rudolf Volkmann: Das Akademische Konzert, in: Jenaische Zeitung vom 13.6.1938 [Sonderdruck]. Vgl. Otto Löw: Akademische Konzerte, in: Rüdiger Stutz/Matias Mieth (Hg.): Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte, Berching 2018, S. 34.

[2] Hans Lehmann: Musikstadt Jena, in: Jena zur Jahrtausendwende. Eine Zeitdokumentation in Wort und Bild, Jena 2000, S. 128-131, hier S. 130.

[3] Ingeburg u. Otto Löw: 60 Jahre Sinfonieorchester Jena. 25 Jahre Jenaer Philharmonie, [Jena 1994], S. 5.

[4] Konrad Huschke: Jenaer Musikfest 1931 (16. bis 18. Mai), in: Weimarische Zeitung, Nr. 115 vom 18.5.1931, zit. nach: Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (LATh – HStA Weimar), Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 32410, Bl. 27v.

[5] Otto Reuter: Siebentes Deutsches Brahms-Fest in Jena. Das Deutsche Requiem – Begrüßung im Rathaus, zit. nach: LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 32410, Bl. 13v.

[6] Gert-Eberhard Kühne: Ernst Schwassmann. „Vater“ der Jenaer Philharmonie. Kapellmeister des Städtischen Sinfonieorchesters Jena 1934-45, Bucha bei Jena 2018, S. 134. Vgl. Dietmar Ebert: Zur Geschichte der Jenaer Philharmonie, in: Birgit Liebold/ Margret Franz (Hg.): Volkshaus Jena. Versuch einer Chronik, Jena/Quedlinburg 2003, S. 123-132.

[7] Arno Eisenhuth: Musikpflege der Stadt Jena, in: Jena. 4 Jahre Kulturpflege, Jena 1937, S. 7-12, hier S. 8. Als Erster fragte der Zeithistoriker Rick Tazelaar nach den gesellschaftlichen Hintergründen der Jenaer Orchestergründung in der frühen Nazizeit. Ders.: Das Städtische Sinfonieorchester Jena und die nationalsozialistische Kulturpolitik. Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts, MS., Jena 2016.

[8] Rüdiger Stutz: Elsner, Georg Alexander, in: Stutz/Mieth (Hg.), Jena. Lexikon, S. 175f. Vgl. Anke John: Lokal- und Regionalgeschichte, Frankfurt am Main [2018], S. 185-200.

[9] Eisenhuth, Musikpflege, S. 8.

[10] holocaustmusic.org/havemann-gustav (Abgerufen: 9. Dezember 2024).

[11] Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1989, S. 40.

[12] Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Herausgegeben von Elke Fröhlich. Teil I Aufzeichnungen 1923-1941, Band 2/III Oktober 1932-März 1934. Bearbeitet von Angela Hermann, München 2006, S. 75. Vgl. ebd., S. 40.

[13] Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 41.

[14] Ebd., S. 50.

[15] Ebd., S. 116. Vgl. Stefan Keym: Bekenntnis- oder Gelegenheitswerk? Max Regers Vaterländische Ouvertüre und die Tradition politischer und religiöser Liedzitate in der Sinfonik, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa: Mitteilungen der internationalen Arbeitsgemeinschaft an der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der internationalen Arbeitsgemeinschaft für die Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa an der Universität Leipzig, Bd. 18 (2017), S. 278-301.

[16] Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 115.

[17] Ebd., S. 51. Vgl. Robert Havemann: Das Reichskartell der deutschen Berufsmusiker als Vorstufe der Musiker- und Musikkammer, in: Deutsche Kultur-Wacht, II/18 vom 5.8.1933.

[18] Reichsmusikkammer, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. April 2024, 15:28 UTC. (Abgerufen: 28. November 2024, 17:45 UTC). Vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 63, 167-169, 176f.

[19] Havemann fiel bei Hitler und Goebbels in Ungnade, weil er sich im Juni 1935 in einem Rundschreiben der Reichsmusikkammer an Hitler und elf Reichsminister bzw. Reichsleiter der NSDAP für die Aufführung einer Oper von Paul Hindemith ausgesprochen hatte. Doch er genoss weiterhin große Privilegien des Regimes, wie eine Unterredung auf Einladung Hitlers 1937 zeigte. Nina Okrassa: Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872-1945), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 269 u. 385. Vgl. Eckhard John: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Stuttgart/Weimar 1994, S. 359f.

[20] Vgl. Reichsmusikkammer Organigramm 1934.png. (2021, Dezember 1). Wikimedia Commons. Retrieved 14:44, Dezember 1, 2024.

[21] Okrassa, Peter Raabe, S. 196-206, hier S. 203.

[22] Ingeburg u. Otto Löw, 60 Jahre Sinfonieorchester, S. 7.

[23] Haushaltplan der Universitätsstadt Jena für das Rechnungsjahr 1934 (1. April 1934 bis 31. März 1935), S. 32-35.

[24] Haushaltplan der Universitätsstadt Jena für das Rechnungsjahr 1935 (1. April 1935 bis 31. März 1936), S. 6.

[25] Ebd., S. 34f.

[26] Ebd., S. 34.

[27] LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 14127, Band 1, Bl. 66v; vgl. Kühne, Schwassmann, S. 138f. u. Kirchenkonzert in Burgau, in: Jenaische Zeitung vom 3.5.1933, zit. nach: LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 14127, Band 1, Bl. 64v.

[28] LATh – HstA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 14127, Band 2, Land Thüringen, Landesamt für Volksbildung an den Schulrat Dr. Schrader vom Kreisbildungsamt in Jena, Schreiben vom 16.8.1946.

[29] Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 187f.

[30] Felix Oberborbeck, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 21. November 2024, 22:07 UTC (Abgerufen: 1. Dezember 2024, 14:53 UTC).

[31] Vgl. die Vita und Beschreibung des Aktenbestandes im Nachlass Felix Oberborbeck (PDF), der im Archiv der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover verwahrt wird (Abgerufen: 1. Dezember 2024).

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