1958 schuf Fritz Cremer eine Bronzebüste des Dichters, ehemaligen DDR-Kulturministers und Jenaer Ehrenbürgers Johannes R. Becher. 2004 wurde das Bildnis von Unbekannten gestohlen und konnte bis heute nicht wieder aufgefunden werden. Zu seinem 125. Geburtstag im November 2016 kam die Idee auf, das verschwundene Becherbildnis in einer Nachbildung wieder aufzustellen.
Am 11. Oktober dieses Jahres wurde die neue Büste – ein Abguss des Originals – in Jena-Winzerla eingeweiht. Der Germanist und Lehrer Dr. Matias Mieth erörterte zu diesem Anlass in seiner Rede das Für und Wider, dem Lyriker und Funktionär ein Denkmal zu bauen.
Rede zur Einweihung der Becher-Büste von Dr. Matias Mieth
Rudolf Bahro, Reformkommunist in der DDR, Mitbegründer der Grünen im Westen wie gescheiterter Ökologiepionier im Biedenkopf-Sachsen nach 1990, hat als Student 1959 eine jener Diplomarbeiten eingereicht, deren Titel »Johannes R. Becher und das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei zur nationalen Frage unseres Volkes« einem die Beschäftigung mit diesem Dichter ein für alle Mal verleiden konnten. Zu lesen war da unter anderem:
»Auf der Suche nach einem neuen, besseren Deutschland hatte er den Weg an die Seite des Proletariats gefunden … Jetzt kann uns sein Leben als ein Beispiel dienen.«
Kann es das – im Jena des Jahres 2019? Wer war Johannes R. Becher?
Es ist ein Leichtes, Becher mit seinen politisch motivierten Texten zu desavouieren. Als proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, der »Abschied« genommen hat von den bürgerlich-individualistischen Wertvorstellungen seiner Herkunftsklasse hat er Textzeilen verfasst, die all das verkörpern, was uns heute geradezu anwidert, wenn wir Grundgesetz und Demokratie verinnerlicht haben und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aller Art verteidigen wollen.
Denn die Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit revolutionärer Gewalt war es, die sich Becher als wesentlich für die Trennung von der Klasse seiner Herkunft und der zeitweise mit anderen Expressionisten geteilten Verkündung von Gewaltlosigkeit zugutehielt. So wird Becher zum – Jahrzehnte später in DDR-Lehrbüchern gefeierten – Einpeitscher der Gewalt im Klassenkampf, der die Oktoberrevolutionäre aufforderte »Lasst Guillotinen spielen«, der der Russischen Föderativen Sowjetrepublik zurief »Nie Vergebung weich«. So beschimpft Becher 1921 seine deutschen Schriftstellerkollegen, die sich aus politischen Gründen der Solidaritätsbewegung für Sowjetrussland verschließen, als »ein apolitisches rasseloses verschlammtes Gewimmel, eine durchaus verstockte, verphraste, hochverquollene Menschheits-Unart, die nur auszurotten ist«.
Und für einen solchen Autor richten wir heute ein Denkmal wieder auf?
Zurecht kann man Becher den Vorwurf machen, dass er – wie andere, und der gerade im Kino laufende und nach Bechers DDR-Nationalhymne betitelte Film »Und der Zukunft zugewandt« zeigt das erneut – das nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 einen Spalt geöffnete Fenster nicht aufgestoßen hat und erneut viele seiner nötigen Fragen an den stalinistischen Sozialismus eben nicht öffentlich gemacht hat.
Und für einen solchen Autor richten wir heute ein Denkmal wieder auf?
Ja, ich meine, das tun wir zurecht. Joachim John hat von dem Wunsch Fritz Cremers berichtet, nach dem Buchenwald-Denkmal noch ein großes Denkmal zu machen, und zwar eines für die Millionen Opfer des Stalinschen Terrors. Aber einen Auftrag dafür hat er nie bekommen.
Freiheitssuche, Selbstzensur und Sensibilität
Auch deshalb stellen wir das Denkmal für den Freiheitssucher wie Stalinisten Becher zurecht wieder auf. Denn wer die Geschichte des stalinistischen Sozialismus verstehen und deshalb wissen will, wie Selbstzensur ein Werk aus politischen Gründen verstümmeln kann, der lese Bechers veröffentlichtes Werk nach 1945 und vergleiche es mit dem, was Becher nicht veröffentlicht hat.
Wer nachlesen will, welche Macht Drogen auf einen jungen Menschen ausüben können, wie sie einen jungen Mann zu einem notorischen Lügner machen können, der beschäftige sich mit Bechers Leben.
Wer sich dafür interessiert, wie Konkurrenz das Verhältnis zwischen Geschwistern zerstören, wie Konflikte in der Kindheit zur lebenslangen Last werden können, der lese das eindrucksvolle Gedicht »Mein Bruder Ernst«.
Wer in Bechers Jena-Gedichten mehr sucht als die lokalpatriotische Idealisierung der Tallage und Selbststilisierung des lyrischen Ichs zum sich Wandelnden, der lese nicht nur das bekannte »Die Schwebende Stadt«, sondern das weniger bekannte, aber umso lebensklüger-melancholische Gedicht »Streifen Paradies«.
Wer einen sensiblen Text sucht, der feinfühlig schon Jahrzehnte vor der Debatte um das Waldsterben der 1980er Jahre oder gar der Klimadebatte der Gegenwart unserem seelenlosen, weil primär vom Nutzungsaspekt geprägten Naturverhältnis nachspürt, der lese Bechers Gedicht »Der tote Wald«.
Nach wie vor ist Bechers Ballade »Kinderschuhe aus Lublin« eines der beeindruckendsten Beispiele für das indirekte Erzählen über den Holocaust überhaupt. Am 27. Oktober diesen Jahres stellt sich in Thüringen übrigens eine Partei zu Wahl, für die jener ein »Vogelschiss in der deutschen Geschichte« war.
Rede vom 11. Oktober 2019, stark gekürzte Fassung
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Kann uns Bechers Leben und Schreiben heute noch ein Beispiel sein?
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